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Viel weniger Seen unter dem Eisschild der Ostantarktis als angenommen

Wie entstehen die grossen Eisströme des Ostantarktischen Eisschildes?

Forschende des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung haben in einer aufwendigen Antarktis-Expedition mehrere Seen unter dem Recovery-Gletscher überprüft, die zuvor mithilfe von Satelliten entdeckt worden waren. Dabei haben die Forscher jedoch kaum grössere Wasseransammlungen gefunden. Dieses Ergebnis überrascht: Bislang hatte die Wissenschaft nämlich angenommen, dass überlaufende Seen unter dem Ostantarktischen Eisschild der Grund sind, warum die Eismassen überhaupt ins Rutschen geraten und sich Eisströme bilden. Die neue Studie ist im Fachmagazin Journal of Geophysical Research erschienen.

Vor dem Jahr 2012 verlor der antarktische Eispanzer kontinuierlich 76 Milliarden Tonnen Eis pro Jahr, das ist mehr als alles Wasser im Bodensee - und liess damit den globalen Meeresspiegel jährlich um 0,2 Millimeter ansteigen.

Zwischen 2012 und 2017 verlor der Kontinent jährlich 219 Milliarden Tonnen Eis, so da sich der Beitrag zum Meeresspiegelanstieg auf 0,6 Millimeter pro Jahr verdreifachte. Damit trägt die Antarktis mit etwa einem Drittel zur gegenwärtigen Beschleunigung des Meeresspiegelanstiegs bei.

Der Recovery-Gletscher im antarktischen Coatsland ist bislang ein schlafender Riese. Im Schneckentempo von 10 bis 400 Meter pro Jahr transportiert er Eismassen vom Hochplateau des Ostantarktischen Eisschildes hinab Richtung Weddellmeer. Sein Einzugsgebiet reicht dabei vom Filchner-Schelfeis an der Küste rund 1'000 Kilometer weit in das Landesinnere und erstreckt sich über eine Fläche fast dreimal so gross wie Deutschland. Beides könnte den Gletscher zu einem gefährlichen Akteur machen, sollte er eines Tages im Zuge des Klimawandels Tempo aufnehmen. Prognosen zufolge wäre er dann jener Strom, über den die Ostantarktis das meiste Eis verlieren würde. Ein Anstieg des weltweiten Meeresspiegels wäre die unmittelbare Folge.
Larsen

Eine Antwort auf die Frage, warum sich die Eismassen des Recovery-Gletschers überhaupt in Bewegung setzen, ist jedoch nach einer Expedition von Glaziologen des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), ungewisser als je zuvor. Bislang hatte die Forschergemeinde angenommen, Schmelzwasserseen unter dem Ostantarktischen Eisschild würden den entscheidenden Impuls zur Entstehung des Eisstromes geben. Die Vorstellung war, dass diese Seen gelegentlich überlaufen und dabei einen Gleitfilm entstehen lassen, auf dem das Eis dann rutscht wie ein Auto beim Aquaplaning. Diese Annahme galt vor allem für jene Regionen des Ostantarktischen Eisschildes, in denen Schwerkraft allein nicht ausreicht, um Eis so schnell fliessen zu lassen. Dazu zählt auch das Entstehungsgebiet des Recovery-Gletschers.

"Auf Satellitenaufnahmen des Gletschers erkennen wir gerade im oberen Einzugsgebiet viele flache, gleichförmige Bereiche an der Oberfläche. Von ihnen hatte man bisher angenommen, dass sich an der Unterseite des Eispanzers riesige Seen befänden, die den Eisstrom initiieren. Ohne diese Seen, so lautete die Vorstellung, würden Eisströme wie der Recovery-Gletscher gar nicht erst entstehen", sagt Prof. Angelika Humbert, Erstautorin der neuen Studie und Leiterin der Sektion Glaziologie am AWI.

Sie und ihre Kollegen können diese Hypothese nun widerlegen. In einer aufwendigen Expedition haben die AWI-Wissenschaftler im antarktischen Sommer 2013/14 den Recovery-Gletscher von Bord des Forschungsflugzeuges Polar 6 aus grossflächig mit dem Radar vermessen. Dessen Daten verraten bis zu einem gewissen Masse, ob der Untergrund unter dem Eisstrom nass oder trocken ist. "Bis zu unserer Expedition waren die Form des Recovery-Gletschers und die Gestalt des Felsbetts darunter weitgehend unbekannt. Einige der weissen Flecken auf der Antarktiskarte können wir nun mit Daten füllen", sagt Angelika Humbert. Die postulierten Wasseransammlungen von der Grösse des Bodensees und grösser aber haben die Wissenschaftler nicht gefunden, obwohl sie ihre Radardaten auf jedes bekannte See-Merkmal hin untersucht haben.

"Um auf Nummer sicher zu gehen, haben wir zusätzlich Satellitendaten genutzt und die zuvor gefundenen Höhenänderungen, die auf auslaufende Seen schliessen lassen, noch einmal überprüft. Wir können die Ergebnisse unserer Kollegen auch reproduzieren und verstehen, warum sie dort Seen vermuten. Wasser aber haben wir an den entsprechenden Stellen nicht nachweisen können", so die Forscherin.

Dass es Unter-Eis-Seen in der Antarktis gibt, weiss man von russischen und britischen Forschungsprojekten am Wostoksee und Ellsworthsee. "Solche Seen sind Ansammlungen von Schmelzwasser, das entsteht, wenn Wärme aus dem Erduntergrund das Eis an seiner Unterseite schmelzen lässt. Das Wasser sammelt sich dann im Laufe von Jahrtausenden in Senken", erklärt AWI-Glaziologe und Mitautor Dr. Thomas Kleiner.

Angesichts ihrer neuen Forschungsergebnisse haben die AWI-Forscher jetzt allerdings mehr Fragen als Antworten zur Rolle der Unter-Eis-Seen. "Unsere neuen Ergebnisse zeigen, dass überfliessende Seen nicht der auschlaggebende Mechanismus für die Entstehung eines Eisstromes sein können", sagt Angelika Humbert und fügt hinzu. "Gleichzeitig weisen unsere Radar-Untersuchungen Schwächen auf, die uns daran zweifeln lassen, ob diese Methode wirklich geeignet ist, subglaziale Seen im vollen Ausmass nachzuweisen. Da sich nun aber auch die Oberflächen- und Höhenanalysen als ungeeignet erwiesen haben, bleiben uns eigentlich nur seismische Untersuchungen, um wirklich zu verstehen, warum sich Eisströme in Bewegung setzen."

Seismische Studien lassen sich allerdings nicht vom Flugzeug aus durchführen und Landexpeditionen in entlegene Regionen wie dem Recovery-Gletscher sind um ein Vielfaches aufwendiger als die ohnehin schon schwierigen Flugzeug-Messkampagnen. Dennoch planen die AWI-Forscher eine Folgeexpedition. Im antarktischen Sommer 2020/21 wollen sie dem Recovery-Gletscher mit einer seismischen Traverse unter das Eis schauen. Parallel dazu soll eines der AWI-Forschungsflugzeuge den Gletscher mit dem neuen AWI-Ultra-Breitband-Eisradar untersuchen. Beide Datensätze zusammen werden dann hoffentlich mehr Aufschluss darüber geben, warum das Eis des Recovery-Gletschers in seinem Entstehungsgebiet zu gleiten beginnt. Erkenntnisse über diese ursächlichen Mechanismen des Gletscherflusses werden dringend gebraucht, um sie in Eis- und Klimamodelle einzubauen und auf diese Weise die Vorhersage-Genauigkeit der Modelle zu verbessern.

Originalpublikation

Angelika Humbert, Daniel Steinhage, Veit Helm, Sebastian Beyer and Thomas Kleiner: Missing evidence of widespread subglacial lakes at Recovery Glacier, Antarctica, Journal of Geophysical Research, DOI: 10.1029/2017JF004591

Quelle: Text AWI, 7. November 2018

Das Alfred-Wegener-Institut forscht in den Polarregionen und Ozeanen der mittleren und hohen Breiten. Als eines von 19 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft koordiniert es Deutschlands Polarforschung und stellt Schiffe wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen für die internationale Wissenschaft zur Verfügung.

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