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Weltwirtschaft - quo vadis? 2009
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Weltwirtschaft - quo vadis?
Referat von Bundesrätin Doris Leuthard anlässlich der Botschafterkonferenz 2009
Entwicklung!

Sie kennen alle die Fakten, die Hintergründe, die Verursacher und die Profiteure, die massgeblich zur Situation beigetragen haben, mit der sich Unternehmer, vor allem aber Politiker und Arbeitnehmende heute und wohl noch lange herumschlagen müssen. Aus einer nationalen Immobilien-Blase wurde eine nationale Bankenkrise, daraus wurde eine internationale Finanzmarktkrise und schliesslich eine Welt-Wirtschaftskrise.

Heute deuten gewisse Indikatoren auf eine leichte Erholung hin. Aber die Arbeitsmarktkrise wird uns 2010 noch begleiten.

Sie kennen auch den Grund, warum das Undenkbare, wie es Mohamed El-Erian (Fondsmanager bei Pimco) unlängst umschrieb, nicht eingetroffen ist, die Volkswirtschaften rund um den Globus noch nicht abgestürzt sind. Die Menschheit hat gelernt - aus der Krise von 1929 / 1930. Zwar hat auch diesmal jeder selber gehandelt, wie in der grossen Depression. Aber statt Nabelschau zu treiben, die Grenzen mit protektionistischen Massnahmen dicht zu machen, haben die verantwortlichen Notenbankchefs und die Regierungen sich besser koordiniert. Dazu hat auch die Schweizerische Nationalbank ihren Beitrag geleistet.

Sie kennen das Resultat dieser (teils) koordinierten Massnahmen. Es wurden von den Industriestaaten Wirtschaftsstützungsprogramme in noch nie da gewesenem Umfang in Höhe von Billionen von Dollars geschnürt. Sie kennen auch das Resultat der von Bundesrat, Parlament und Kantonen ergriffenen Stabilisierungsmassnahmen: ein Konjunkturimpuls von total über 15 Milliarden Franken (ca. 3% BIP) für 2009 und 2010. Dass wir heute da stehen, dazu haben auch die multinationalen Organisationen ihren Beitrag geleistet. Die G20 hat das Financial Stability Board (FSB) geschaffen; der IMF hat den Lead bei der aktiven Planung und Gestaltung von Finanzmarkt stabilisierenden Massnahmen übernommen und ist im Falle von Island als ,lender of last resort" eingesprungen. Die Weltbank hat rasch Hilfe für die ebenso betroffenen Entwicklungsländer geleistet. Heute stellt sich aber die Frage:

Wohin geht die Weltwirtschaft?

Ökonomen sagen: Wenn El-Erian spricht, dann sollte man besser auf ihn hören! 2005 sagte er: ,Die USA konsumieren zu viel." Das wollte niemand hören. Heute sagt er: ,Die Welt wird nicht mehr dieselbe sein, wie vor 2007." Wir tun gut daran, jetzt genau zuzuhören. Ich bin überzeugt: So wie sich die geostrategischen Machtverhältnisse nach dem Fall der Mauer 1989 verschoben haben, so werden die globalen ökonomischen Gewichte neu austariert.

Und bevor sich die neuen Mächtigen etabliert haben, werden wir Unruhe auf den Märkten haben; weniger Wachstum, mehr Arbeitslosigkeit.

Sichtbares Zeichen der Machtverschiebungen ist die Gruppierung der G20. Früher haben die G10 (Industrieländer) den Takt vorgegeben. Jetzt sitzen auch die Schwellenländer (z.B. Indien oder Brasilien) bei der G20 am gleichen Tisch. Hier gibt es viele Fragen zu klären: Die Notwendigkeit ihrer Integration ist unbestritten. Aber zu welchem Preis, mit welchen Pflichten? Welche Rolle spielen die Schwellenländer, die gleichzeitig etwa in der WTO den Statuts als Entwicklungsländer haben? Droht der Schweiz ein Machtverlust, eine Marginalisierung?

Konjunkturell zumindest scheint sich eine Erholung abzuzeichnen. Gewisse Indikatoren zeigen Stabilisierungstendenzen. Deutschland mit steigenden Auftragseingängen in der Industrie (Mai: +4,4 %). Deutschland und Frankreich mit einem aktuellen BIP-Wachstum von je 0,3%. Dies lässt eine allmählich nachlassende Rezession vermuten. Aber von einem kräftigen Aufschwung sind wir noch weit entfernt. Das Risiko einer Rückschlages besteht nach wie vor. Allein in den USA sind fast 15 Millionen Menschen ohne Job.

Was geschieht mit den Industrienationen?

dot Kann Europa weiterhin als starker Wirtschaftsmotor funktionieren? Es besteht die Gefahr, dass die Old Economy Europas, die in der Vergangenheit die Infrastrukturanlagen der Welt baute, an Bedeutung verliert und die New Technologies diese Lücke kaum füllen können. Europa wird zudem Überaltern. Um den Anschluss nicht zu verlieren, müssen sich die Staaten Europas schneller bewegen - Strukturen bereinigen, Arbeitsmärkte flexibilisieren, die hohe Steuerlast senken, Innovationen stärker fördern.


dot Die Vereinigten Staaten dürften allein wegen ihrer Grösse und einer jenseits der heutigen Krise dynamischen wettbewerbsfähigen Wirtschaft ein wichtiger Player bleiben. Sie haben ein positives Bevölkerungswachstum, die Sparquote in den USA ist bereits bis zu 5% höher, Präsident Obama setzt auf Innovation und Clean Technology (Energie, Umwelt etc.). Letzteres dürfte zu einem positiven Exportfaktor für die USA werden. Negativ zu werten ist die hohe Schuldenlast.


dot Russland wird dank den grossen Erdöl- und Erdgasvorkommen noch eine Zeitlang seine Rolle spielen können. Aufgrund dieser einseitigen Abhängigkeit, einer nicht sehr ausgeprägten Diversifizierung der Wirtschaft und der veralteten Wirtschaftsstrukturen dürfte Russland in einem multipolaren Umfeld aber an Bedeutung verlieren, sofern es ihnen nicht gelingt, ihre Strukturen anzupassen. Dennoch bleiben sie eine Nuklearmacht.

Wer werden die neuen Mächtigen sein?

Bisher war die Welt von einigen Grossen geprägt - USA, Europa, Russland und Japan. Dieses Machtgefüge wird in Zukunft stärker durch China, Indien, Brasilien geprägt. Zum eigentlichen weltwirtschaftlichen Motor dürften aber die Schwellenländer und die Länder im südostasiatischen Raum mit grossem Bevölkerungswachstum werden. Offen ist die Rolle der kapitalkräftigen Staaten in der Golfregion.

dot China hat mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern nicht nur das binnenmarktliche Potential dazu. Durch einen stärkeren Mittelstand wird auch die Kaufkraft ansteigen. China hat über sein Konjunkturprogramm enorm viel Geld in seine Wirtschaft gepumpt. Man ist seit längerer Zeit auf einer strategischen Einkaufstour von natürlichen Ressourcen aller Art. Zudem besteht ein enormer Aufholbedarf, wo es um den Schutz der Umwelt und um die effiziente Nutzung von Energie geht. Chinas Herausforderung wird sich im gesellschaftlich-sozialen Bereich stellen (z.B. Zukunft der Wanderarbeitnehmern).

dot Indien wurde von der Wirtschaftskrise nur gestreift. Der Finanzminister strebt für den Haushalt 2009/2010 ein jährliches BIP-Wachstum von 9% an. Indien wird sich in einigen Jahren von der one-meal-society zur two-meal-society wandeln. Damit wird Indien von einem Agrar-Exporteur zu einem Agrar-Importeur, was wiederum Auswirkungen auf die hängige Doha-Runde der WTO haben dürfte. Die grosse Herausforderung für Indien bleibt der Ausbau der heutigen mangelhaften Infrastruktur. Mumbai ist z.B. die einzige indische Stadt, in der Strom den ganzen Tag verfügbar ist.


dot Brasilien galt als Wirtschaftsmotor in Südamerika; reich an Bodenschätzen, fruchtbarem Boden und Menschen - potentiellen Konsumenten. Brasiliens Banken sind nicht so stark in den Subprime-Sog geraten, ein starker Binnenmarkt hat in den letzten Jahren den Export als Konjunktur-Treiber abgelöst. Und das Krisenmanagement der Zentralbank hat sich ebenfalls stabilisierend ausgewirkt. Hier ist höchstens offen was nach der stabilisierenden, reformfreudigen Präsidentschaft von Lula da Silva geschieht.

Die Krise wird wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen haben.

dot Wirtschaftliche, weil Ungleichgewichte zwischen USA und China vorherrschen, konjunkturbedingte Budgetdefizite und Staatsschulden drohen, Exitstrategien aus den staatlichen Beteiligungen an Banken und Unternehmen ausgearbeitet werden müssen.


dot Gesellschaftlich, weil Forderungen nach Regulierung und Staatsmacht einerseits und den Ansprüchen nach Privatisierung und Liberalisierung gegenüberstehen; weil die Krise andere Probleme (Klima, Nahrungsmittel- und Ressourcenverknappung, fortschreitende Alterung der Gesellschaft) in den Hintergrund drängt.

Folgende Fragen stellen sich:

dot Wie schnell und nachhaltig können die durch die Konjunktur-Milliarden angehäuften Staatsschulden auf ein vernünftiges Niveau abgebaut werden?

Die USA und andere Staaten haben massive Schulden gemacht um damit Ausgaben, Arbeit, Konsum zu stützen. Aber Schulden sind eine Hypothek für die kommende Generation und belasten den Start in eine nächste Wachstumsphase. Diese Hypothek hat der Bundesrat nicht aufgenommen und seine Konjunkturmassnahmen diszipliniert unter der Schuldenbremse gehalten. Das ist ein Weg. Andere Wege sind Wachstum und damit mehr Steuereinnahmen; Kürzung der Staatshaushalte oder Abwertung der Währung und Inflation.

dot Wie können die wirtschaftlichen Ungleichgewichte - insbesondere zwischen China und USA - beseitigt werden?

Während die USA auf Pump konsumierten und damit eine hohe Schuldenlast aufbauten, häufte China US-Dollar-Reserven in grossem Stil an und finanzierte damit den amerikanischen Konsum. Im Soge der Finanz- und Wirtschaftskrise hat China dieses Engagement (Staatsanleihen) verstärkt. Die USA sind von China abhängig è für die gesamte Weltwirtschaft eine Zeitbombe.

dot Was geschieht, wenn sich die Konjunktur nicht im erhofften Ausmass und vor allem nicht im erhofften Zeitrahmen erholt?

Verpuffen die staatlichen Konjunkturimpulse oder reicht der Aufschwung, damit sich die Wirtschaft nachhaltig erholen kann? Wird sich die Konjunktur in einem W-Verlauf entwickeln? Ist es sogar wünschenswert, dass bescheidenere Wachstumsraten entstehen, dafür ökosozial gewirtschaftet wird?

dot Welche Folgen haben Klimawandel und die Verknappung an Nahrungsmitteln?

Im Juni zeigten sich die G8 besorgtüber die bereits wieder feststellbare Verteuerung von Nahrungsmitteln. Die Preise für Sojabohnen, Mais und Weizen sind zwar noch von den Spitzenwerten von 2008 entfernt. Nach einer vorübergehenden Marktberuhigung sind sie aber bereits wieder um rund 50% gestiegen. Grund dafür ist die steigende Nachfrage in China, die Trockenheit in Lateinamerika und der erschwerte Zugang zu Finanzen - vorab in der Ukraine. Der Klimawandel birgt für die Volkswirtschaften Chancen und Risiken. Risiken, weil landwirtschaftliche Erträge bei gleichzeitig steigendem Bedarf an Nahrungsmitteln zurückgehen. Teure Nahrungsmittel aufgrund der Verknappung sind sozialer Sprengstoff und ein Armutsrisiko. Chancen, weil sich hier neue Innovations- und Investitionsfelder eröffnen - gerade für die Schweizer Landwirtschaft.

dot Wie kann der Weltmarkt weiter liberalisiert werden?

Ein offener Welthandel ist der beste Garant für ein internationales Wachstum und hat zahlreiche Länder in der Bekämpfung von Armut unterstützt. Handel leistet einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der Krise. Die Exportmärkte müssen offengehalten werden. Die WTO ist Garant hierfür. Die Schweiz kämpft in der WTO und in der OECD gegen den zunehmenden Handels- und Finanzprotektionismus. Sie hat sich zusammen mit elf andern mittleren Wirtschaftsmächten am Rande der letzten OECD-Ministerkonferenz verpflichtet, keine neuen Handelsrestriktionen einzuführen. Sie unterstützt und fördert zudem die Initiative von WTO-Generaldirektor Pascal Lamy, der seit anfangs Jahr vierteljährlich über protektionistische Handelsmassnahmen informiert. Der Abschluss der Doha-Runde würde im jetzigen wirtschaftlichen Umfeld ein wichtiges Zeichen setzen, der Weltwirtschaft neue Impulse verleihen und für eine gerechtere Marktwirtschaft sorgen - vor allem für Entwicklungsstaaten. Anfangs September nehme ich in New Delhi an einem informellen Ministertreffen zur WTO und der Doha-Runde teil, zu der mein indischer Kollege einlädt. Diese Konferenz dürfte den Inhalt des G20-Treffen von Pittsburgh in bezug auf die Doha-Runde weitgehend vorspuren. Parallel dazu setzen wir weiterhin auf unsere aktive Freihandelspolitik um der Exportwirtschaft stetig verbesserte Marktzugangsbedingungen bieten zu können.

Wo steht die Schweiz?

Wir stehen gut da: Mit einer relativ tiefen Arbeitslosigkeit und einem BIP-Wachstum von 3,6% im 2007 haben wir im europäischen Vergleich gut abgeschnitten. Wir haben keine strukturellen Klötze zu tragen; keine Immobilien-Blase, keine Inflation, eine geringe Staatsverschuldung, eine Top-Infrastruktur, ein weitgehend offener Binnenmarkt.

Wir haben auch das Potential, um in Zukunft auf den Weltmärkten vorne dabei zu sein. Im Gegensatz zu jenen Ländern, die hohe Schulden jetzt mit hohen Steuern reduzieren müssen, beschert uns die zurückhaltende Konjunkturpolitik unverhofft Vorteile (KPMG-Studie). Wir haben einen hohen Standard in Bildung, Forschung und Innovation. Wir haben Unternehmen mit innovativen Produkten, insbesondere im Bereich Clean Technology.

Obwohl wir in der G20 dabei sind, stehen wir nicht abseits. Wir nehmen durch konstruktives und verlässliches Engagement, qualitativ hochstehende Inputs sowie massgeblich auch über die Beteiligung an der Finanzierung der Organisationen Einfluss. Die Schweiz hat sich einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet. Aber: Angesichts der Verschiebung der Gewichte auf dem internationalen Parkett ist es wichtig, dass wir unsere Interessen insbesondere auch bilateral und informell pflegen.

Wir müssen unsere Interessen laut und deutlich anmelden, uns mehr mit Gleichgesinnten verbinden.

Quelle: Text Eidgenössisches Volkswirtschaftsdepartement EVD August 2009
Weitere Informationen
Gesellschaft: Integration & Zusammenleben (Schweiz) Staatskunde Schweiz
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IMF International Monetary Fund
World Trade organization WTO
Organisation for Economic Co-operation and Development OECD
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