Wirksamkeit
von Klassenwiederholungen in der Schweiz
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Schweiz |
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Volksschule |
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"Sitzenbleiben"
macht wenig Sinn |
In
der Schweiz wird die Klassenwiederholung, auch Repetition oder Sitzenbleiben
genannt, als eine sinnvolle pädagogische Massnahme betrachtet. Schwachen
Schülern und Schülerinnen soll mehr Lernzeit gewährt werden.
Ausserdem wird allgemein angenommen, dass repetierende Kinder im Wiederholungsjahr
aufgrund ihres Vorsprungs zu Erfolgserlebnissen kommen. Gérard Bless,
Marianne Schüpbach und Patrick Bonvin von der Universität Freiburg
i. ü. haben nun in einer ersten schweizweiten Untersuchung zur Wirksamkeit
von Klassenwiederholungen festgestellt, dass der Vorsprung von Repetierenden
bereits am Ende des Repetitionsjahres nicht mehr vorhanden ist und sich
bis zum Ende des nächstfolgenden Jahres gar in einen Rückstand
verwandelt. |
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Andere
Länder, andere Sitten |
Während
beispielsweise in den skandinavischen Staaten und in Grossbritannien der
Übertritt von einer Klassenstufe zur nächsten automatisch erfolgt
oder in Frankreich die Repetition nur am Ende eines zwei- oder dreijährigen
Zyklus angeordnet werden kann, wird in den deutschsprachigen Ländern
relativ häufig auf die Massnahme der Klassenwiederholung zurückgegriffen.
In der Schweiz wird fast jedes fünfte Kind im Verlauf seiner Schulpflicht
zurückversetzt. Grund genug für Gérard Bless und sein
Team, diese Problematik eingehend zu beleuchten. In allen Schweizer Kantonen
mit Ausnahme Neuenburgs und des Tessins führten die Forschenden über
drei Jahre hinweg eine aufwendige Untersuchung durch: in 234 Klassen mit
insgesamt 4'248 Kindern des zweiten Primarschuljahres befragten sie Lehrpersonen
zu ihrer Einstellung gegenüber Klassenwiederholungen. Sie befragten
Kinder zu ihrer Schullust, führten Leistungstests in der Unterrichtssprache
und in Mathematik sowie Intelligenztests durch. Wichtige Daten wurden bereits
vor dem Repetitionsentscheid gesammelt, so dass Mechanismen analysiert
werden konnten, die zum Entscheid für eine Klassenwiederholung führen.
Anschliessend
wurden leistungsschwache Schülergruppen miteinander verglichen. Der
Versuchsgruppe repetierender Kinder wurde eine Kontrollgruppe leistungsschwacher,
aber promovierter Kinder gegenübergestellt. Die Ergebnisse einer solchen
Parallelisierung sind ernüchternd: Offiziell fordern die kantonalen
Promotionsbestimmungen, dass alle Schüler, welche die Lernziele nicht
erreichen, repetieren müssen. In Tat und Wahrheit wird die Mehrheit
der schwächsten Kinder aber in die nächst höhere Klasse
versetzt; nur eine Minderheit lernschwacher Schüler und Schülerinnen
muss eine "Ehrenrunde" drehen. Der Entscheid im Sinne einer Klassenwiederholung",
so Gérard Bless, "kann unterschiedlich ausfallen, je nachdem, bei
welcher Lehrperson ein schwaches Kind zufällig den Unterricht besucht."
Das Team um Bless konnte aufzeigen, dass künftige Repetierende von
ihren Lehrern und Lehrerinnen systematisch unterschätzt werden. Aufgrund
dieser Forschungsergebnisse erscheint die Klassenwiederholung gerade im
Lichte der Gleichbehandlung der Kinder als nicht vertretbar.
Handlungsbedarf
in der Romandie |
In
der Romandie kommt als wichtiger Risikofaktor für eine Klassenwiederholung
die ausländische Herkunft der Kinder hinzu. Müssen in der deutschsprachigen
Schweiz 1,9% der Kinder repetieren, so sind es in der französischsprachigen
Schweiz 2,8%. Bei den repetierenden Kindern in der Romandie beträgt
der Ausländeranteil 53,7% (deutsche Schweiz 23,8%). Dies ist umso
erstaunlicher, als die Immigrantenpopulation in der französischsprachigen
Schweiz zu einem grossen Teil aus dem Mittelmeerraum -Italien, Spanien
und Portugal- stammt und so linguistische und auch kulturelle Verwandtschaften
bestehen. In der deutschsprachigen Schweiz ist dies anders: da sind in
den letzten Jahren vermehrt Kinder aus Ex-Jugoslawien, der Türkei
und Albanien und somit aus entfernteren Kulturräumen eingeschult worden.
Eine
mögliche Erklärung für die deutliche überrepräsentation
ausländischer Repetierender in der Romandie liefert folgende Feststellung
des Forscherteams: In der deutschsprachigen Schweiz erhalten 62,3% der
ausländischen Kinder zusätzliche Unterstützungsangebote
wie Deutsch für Fremdsprachige, Aufgabenhilfe oder Logopädie.
In der Romandie ist dies nur für 7,2% der ausländischen Kinder
der Fall. "Offensichtlich", so Gérard Bless, "scheint man in der
Romandie die mangelnde zusätzliche Unterstützung fremdsprachiger
Kinder mit Hilfe der Klassenwiederholung ausgleichen zu wollen."
Laut
Bundesamt für Statistik wendet die öffentliche Hand pro Schüler
und Schülerin auf der Primarschulstufe jährlich 11'000 Franken
auf. Klassenwiederholungen stellen also eine teure Angelegenheit dar. Für
weniger Geld könnte man lernschwachen Kindern zwei bis drei wirksame
Förderstunden wöchentlich angedeihen lassen. Bless und sein Team
gehen in ihren Empfehlungen aber noch einen Schritt weiter: da Klassenwiederholungen
langfristig keinen Erfolg zeitigen - und hier entsprechen die Schweizer
Ergebnisse den internationalen Erfahrungen - plädiert Bless für
mehr Toleranz in den Primarschulen. Bisher ging man davon aus, dass eine
Lerngruppe möglichst homogen sein sollte, was konsequenterweise zu
Aussonderungen jeglicher Art führt (Klassenwiederholung, überführung
in Sonderklassen). Bless schwebt dagegen eine Primarschule vor, welche
die Unterschiedlichkeit von Kindern akzeptiert. Dabei eignen sich individualisierte
Lernformen im pädagogisch-didaktischen Bereich besonders gut; aber
auch bei der Definition von Lernzielen und Leistungsbewertungen sollten
die unterschiedlichen Begabungen und Lernstärken der einzelnen Kinder
berücksichtigt werden.
Quelle:
BfS, Medienmitteilungen
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