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Wirksamkeit von Klassenwiederholungen in der Schweiz
Schweiz
Volksschule
"Sitzenbleiben" macht wenig Sinn
Januar 2005

In der Schweiz wird die Klassenwiederholung, auch Repetition oder Sitzenbleiben genannt, als eine sinnvolle pädagogische Massnahme betrachtet. Schwachen Schülern und Schülerinnen soll mehr Lernzeit gewährt werden. Ausserdem wird allgemein angenommen, dass repetierende Kinder im Wiederholungsjahr aufgrund ihres Vorsprungs zu Erfolgserlebnissen kommen. Gérard Bless, Marianne Schüpbach und Patrick Bonvin von der Universität Freiburg i. ü. haben nun in einer ersten schweizweiten Untersuchung zur Wirksamkeit von Klassenwiederholungen festgestellt, dass der Vorsprung von Repetierenden bereits am Ende des Repetitionsjahres nicht mehr vorhanden ist und sich bis zum Ende des nächstfolgenden Jahres gar in einen Rückstand verwandelt.

Andere Länder, andere Sitten

Während beispielsweise in den skandinavischen Staaten und in Grossbritannien der Übertritt von einer Klassenstufe zur nächsten automatisch erfolgt oder in Frankreich die Repetition nur am Ende eines zwei- oder dreijährigen Zyklus angeordnet werden kann, wird in den deutschsprachigen Ländern relativ häufig auf die Massnahme der Klassenwiederholung zurückgegriffen. In der Schweiz wird fast jedes fünfte Kind im Verlauf seiner Schulpflicht zurückversetzt. Grund genug für Gérard Bless und sein Team, diese Problematik eingehend zu beleuchten. In allen Schweizer Kantonen mit Ausnahme Neuenburgs und des Tessins führten die Forschenden über drei Jahre hinweg eine aufwendige Untersuchung durch: in 234 Klassen mit insgesamt 4'248 Kindern des zweiten Primarschuljahres befragten sie Lehrpersonen zu ihrer Einstellung gegenüber Klassenwiederholungen. Sie befragten Kinder zu ihrer Schullust, führten Leistungstests in der Unterrichtssprache und in Mathematik sowie Intelligenztests durch. Wichtige Daten wurden bereits vor dem Repetitionsentscheid gesammelt, so dass Mechanismen analysiert werden konnten, die zum Entscheid für eine Klassenwiederholung führen.

Ein Hauch von Willkür
Anschliessend wurden leistungsschwache Schülergruppen miteinander verglichen. Der Versuchsgruppe repetierender Kinder wurde eine Kontrollgruppe leistungsschwacher, aber promovierter Kinder gegenübergestellt. Die Ergebnisse einer solchen Parallelisierung sind ernüchternd: Offiziell fordern die kantonalen Promotionsbestimmungen, dass alle Schüler, welche die Lernziele nicht erreichen, repetieren müssen. In Tat und Wahrheit wird die Mehrheit der schwächsten Kinder aber in die nächst höhere Klasse versetzt; nur eine Minderheit lernschwacher Schüler und Schülerinnen muss eine "Ehrenrunde" drehen. Der Entscheid im Sinne einer Klassenwiederholung", so Gérard Bless, "kann unterschiedlich ausfallen, je nachdem, bei welcher Lehrperson ein schwaches Kind zufällig den Unterricht besucht." Das Team um Bless konnte aufzeigen, dass künftige Repetierende von ihren Lehrern und Lehrerinnen systematisch unterschätzt werden. Aufgrund dieser Forschungsergebnisse erscheint die Klassenwiederholung gerade im Lichte der Gleichbehandlung der Kinder als nicht vertretbar.

Handlungsbedarf in der Romandie

In der Romandie kommt als wichtiger Risikofaktor für eine Klassenwiederholung die ausländische Herkunft der Kinder hinzu. Müssen in der deutschsprachigen Schweiz 1,9% der Kinder repetieren, so sind es in der französischsprachigen Schweiz 2,8%. Bei den repetierenden Kindern in der Romandie beträgt der Ausländeranteil 53,7% (deutsche Schweiz 23,8%). Dies ist umso erstaunlicher, als die Immigrantenpopulation in der französischsprachigen Schweiz zu einem grossen Teil aus dem Mittelmeerraum -Italien, Spanien und Portugal- stammt und so linguistische und auch kulturelle Verwandtschaften bestehen. In der deutschsprachigen Schweiz ist dies anders: da sind in den letzten Jahren vermehrt Kinder aus Ex-Jugoslawien, der Türkei und Albanien und somit aus entfernteren Kulturräumen eingeschult worden.

Eine mögliche Erklärung für die deutliche überrepräsentation ausländischer Repetierender in der Romandie liefert folgende Feststellung des Forscherteams: In der deutschsprachigen Schweiz erhalten 62,3% der ausländischen Kinder zusätzliche Unterstützungsangebote wie Deutsch für Fremdsprachige, Aufgabenhilfe oder Logopädie. In der Romandie ist dies nur für 7,2% der ausländischen Kinder der Fall. "Offensichtlich", so Gérard Bless, "scheint man in der Romandie die mangelnde zusätzliche Unterstützung fremdsprachiger Kinder mit Hilfe der Klassenwiederholung ausgleichen zu wollen."

Mehr Mut zur Toleranz

Laut Bundesamt für Statistik wendet die öffentliche Hand pro Schüler und Schülerin auf der Primarschulstufe jährlich 11'000 Franken auf. Klassenwiederholungen stellen also eine teure Angelegenheit dar. Für weniger Geld könnte man lernschwachen Kindern zwei bis drei wirksame Förderstunden wöchentlich angedeihen lassen. Bless und sein Team gehen in ihren Empfehlungen aber noch einen Schritt weiter: da Klassenwiederholungen langfristig keinen Erfolg zeitigen - und hier entsprechen die Schweizer Ergebnisse den internationalen Erfahrungen - plädiert Bless für mehr Toleranz in den Primarschulen. Bisher ging man davon aus, dass eine Lerngruppe möglichst homogen sein sollte, was konsequenterweise zu Aussonderungen jeglicher Art führt (Klassenwiederholung, überführung in Sonderklassen). Bless schwebt dagegen eine Primarschule vor, welche die Unterschiedlichkeit von Kindern akzeptiert. Dabei eignen sich individualisierte Lernformen im pädagogisch-didaktischen Bereich besonders gut; aber auch bei der Definition von Lernzielen und Leistungsbewertungen sollten die unterschiedlichen Begabungen und Lernstärken der einzelnen Kinder berücksichtigt werden.
Quelle: BfS, Medienmitteilungen

Externe Links
Bundesamt für Statistik BFS
Schweizer Nationalfond SNF
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