Schluss mit dem Streit! Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich hatte zum Glück keinen Streit zu schlichten - , aber bei der Diskussion über die Zukunft der Sekundarschule darauf zu achten, den auch in Zürich bestens bekannten Streit über die Schulstruktur nicht neu zu entfachen. Dies ist ihr gelungen, weil sie eine Diskussion über die Entwicklung der Sekundarstufe der Volksschule mit allen Betroffenen führte und dabei schnell einmal feststellte, dass die Einführung eines einheitlichen Schulmodells nicht nur auf Begeisterung stossen würde. Schattenseiten der aktuellen Schulstruktur Es gibt durchaus einige wissenschaftliche Befunde, die für die Anpassung der jetzigen Schulstruktur auf der Sekundarstufe I sprechen. Beispielsweise ist inzwischen unbestritten, dass in Schultypen mit geringen Anforderungen, wie der Abteilung C, ungünstige Lernund Entwicklungsmilieus entstehen. Diese Schulen -mittlerweile als Restschulen bezeichnet -sind durch verschiedene Faktoren besonders belastet: einen hohen Anteil an fremdsprachigen Schülerinnen und Schülern, ein niedriges Leistungsund Fähigkeitsniveau und die Konzentration von Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Familien. Restschulen sind Auffangbecken für Schülerinnen und Schüler mit Lernschwierigkeiten.2 Auch die C-Klassen im Kanton Zürich laufen Gefahr, zu Restklassen zu verkommen, denen das gleiche Schicksal wie den Kleinklassen widerfährt: Gemessen am Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler sind die Klassen als wenig effektiv zu bezeichnen und sie führen darüber hinaus je länger je mehr zu einer Stigmatisierung. Mit einem C-Abschluss ist es schwierig, eine Lehrstelle zu finden.3 Die dreigliedrige Sekundarschule im Kanton Zürich mit drei Abteilungen und wahlweise keine, eine, zwei oder drei Anforderungsstufen in drei Fächern -und dem Gymnasium -führt zudem bei der Leistungsbeurteilung zu einer gewissen Orientierungslosigkeit. Konkret wissen wohl weder Lehrpersonen noch Schülerinnen und Schüler, weder Eltern noch Lehrmeister, welche Fähigkeiten als «sehr gut», «gut» «genügend» oder «ungenügend» zu beurteilen sind und welches schulische Wissen und Können für welche Ausbildung auf der Sekundarstufe II vorausgesetzt wird. Zumindest werden regelmässig Grafiken publiziert, die auf die Beurteilungsproblematik hinweisen. Von den Noten lässt sich nur beschränkt auf die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler schliessen.4 Untergeordnete Bedeutung der Schulstrukturen Auch die Leistungsbeurteilung wird durch ein einheitliches Schulmodell nicht einfach gerechter. Zweifellos lässt sich relativ zuverlässig bestimmen, welche Schülerinnen und Schüler im Ggymnasium definitiv überfordert und welche in der Abteilung B unterfordert sind. Für die grosse Mehrheit der Schülerinnen und Schüler sind jedoch keine verlässlichen Aussagen möglich. Sie unterscheiden sich in ihren fachlichen Kompetenzen nur geringfügig. Da helfen auch die Schultypen nicht weiter. Ein grosser Teil der Schülerinnen und Schüler der Abteilung B erreicht im PISA-Test Leistungen, die weit besser sind als jene von vielen Schülerinnen und Schülern der Abteilung A.6 Unterrichtsentwicklung statt Strukturreform Die im Rahmen von Chance Sek durchgeführte Delphi-Befragung von Lehrpersonen macht deutlich, dass sich bei einer Debatte über die Schulstrukturen alle Partien sofort in die ideologischen Schützengräben zurückziehen, was zugleich Stillstand statt Entwicklung zur Folge hat.7 Die Delphi-Befragung zeigt aber auch, dass selbst die scheinbar reformmüden Lehrpersonen gegenüber Entwicklungen nicht a priori abgeneigt sind. Auch in der Lehrerschaft herrscht weitgehend Einigkeit, dass sich die Sekundarschule entwickeln muss. Reformen werden unterstützt, sofern sie der Verbesserung der Unterrichtsqualität dienen und mit Bedacht umgesetzt werden. Besserer Unterricht führt in der Regel zu besseren schulischen Leistungen. Und bessere Schulleistungen sind für einen Teil der Jugendlichen unabdingbar, damit sie eine Lehrstelle finden. «Einheitlichkeit ohne einheitliches Schulmodell», wie es im vorliegenden Bericht zur Weiterentwicklung der Sekundarstufe der Volksschule im Kanton Zürich heisst, entspricht deshalb einer Heuristik, die auch aus Sicht der Bildungsforschung als erfolgsversprechend beurteilt werden kann. Im Zentrum der Entwicklung stehen der Unterricht, das Lernen und die Leistungsbeurteilung. Damit diese Entwicklungen möglich werden, braucht es allerdings eine Präzisierung und Konkretisierung der Anforderungen und Lernziele. Konkretisierung der Anforderungen und Lernziele - welches Wissen und Können in der Sekundarschule vermittelt wird, - welche Leistungen zu welchen Noten und Zertifikaten führen und - welche Kompetenzen für welche Bildungs- und Berufslaufbahnen vorausgesetzt werden. Diese Transparenz erfüllt drei Funktionen. Erstens erleichtert sie eine abteilungsübergreifende Beurteilung, zweitens bildet sie eine Grundlage für die individuelle Förderung und das selbstständige, eigenverantwortliche Lernen der Schülerinnen und Schüler und drittens dient sie der Stärkung der Sekundarschule, die ihre Aufgabe der Selektion dank verlässlichen Zeugnissen wieder besser wahrnehmen und zugleich nachweisen kann, mit welchem schulischen Wissen und Können die Jugendlichen die Volksschule verlassen. Abteilungsübergreifende Beurteilung Die Einteilung der Schülerinnen und Schüler in Leistungsgruppen wird immer mit einer gewissen Unschärfe behaftet sein. Umso wichtiger ist es, dass sich Schülerinnen und Schüler unabhängig von der Abteilung entwickeln können und dass ihre Fähigkeiten in einem abteilungsübergreifenden Vergleich beurteilt werden. Dazu braucht es Lehrpläne und Lehrmittel, in denen die Leistungserwartungen transparent sind, und Instrumente, mit denen die einseitige, mehrheitlich an der Klasse orientierte Beurteilung abgelöst wird. Auch die Lehrpersonen sind sich ihrer Pflicht zur zuverlässigen Beurteilung bewusst, wie die Delphi-Befragung zeigt. Modellvielfalt -mit acht Grundmodellen alleine im Kanton Zürich -darf aus Gründen der Fariness nur dann gewährt werden, wenn die Leistungsbeurteilung unabhängig von einer Abteilung aufzeigt, was die Schülerinnen und Schüler wissen und können. Damit könnte vermutlich die Motivation der Schülerinnen und Schüler und die Attraktivität der Abteilung B erhöht werden. Wer der Abteilung A zugeteilt wird, hat noch nichts erreicht, wer der Abteilung B zugeteilt wird, hat noch nichts verloren. Individuelle Förderung Standardisierte Leistungstests wie der Stellwerk-Test können dabei hilfreich sein, weil sie eine abteilungsübergreifende Grundlage zur Planung individueller Lehr-Lern-Prozesse liefern. Standardisierte Instrumente unterstützen auch die Lehrpersonen bei der kompetenzorientierten Beurteilung der Leistungen, wie die Ergebnisse der Delphi-Befragung zeigen. Sie ersetzen aber das Urteil der Lehrpersonen nicht, denn eine kontinuierliche Beurteilung des individuellen Lernfortschritts durch die Lehrpersonen ist wesentlich aussagekräftiger als eine einmalige Standortbestimmung. Stärkung der Sekundarschule Mit der Konkretisierung der Anforderungen und Lernziele wird die Sekundarstufe gestärkt. Wenn es gelingt, die Beurteilung am Wissen und Können der Schülerinnen und Schüler auszurichten, werden die Klagen über unbrauchbare Zeugnisse rasch abklingen. Lehrmeister brauchen nicht zwingend Informationen zur besuchten Abteilung, aber Noten und Zertifikate, die sich unabhängig vom Schulmodell interpretieren lassen. Hilfreich wären vermutlich verlässliche Angaben darüber, in welcher Komplexität beispielsweise eine Schülerin die Proportionalität verstanden hat oder ob sie problemlos einen verständlichen Text schreiben kann. Transparenz über die erreichten Fähigkeiten gibt der Sekundarstufe zudem die Möglichkeit, sich in die Diskussion der Lehrmeister über die ungenügenden Fähigkeiten der Schulabgänger einzuschalten. Diese Diskussion wird bis anhin vor allem anhand von persönlichen Eindrücken, aber ohne konkrete Angaben zum Wissen und Können der Schulabgänger geführt.9 Verschiedene Wege, gleiche Erfolgskriterien Die Erfolgskriterien sind die gleichen: Die Verbesserung des Unterrichts und mehr Fairness bei der Leistungsbeurteilung. Beides wird auch mit einer Strukturreform nicht automatisch erreicht.
1 Die Zeit Nr. 48 (2007, November 22). Schluss mit dem Streit! Wie Deutschlands Schulsystem reformiert werden muss -ein Aufruf. 2 Baumert, J., Stanat, P., & Watermann, R. (Hrsg.). (2006). Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: VSVerlag für Sozialwissenschaften. 3 Bildungsdirektion des Kantons Zürich, Bildungsplanung (2009). Die Schulen im Kanton Zürich 2008/09. Haeberlin, U., Bless, G., Moser, U. & Klaghofer, R. (1999). Die Integration von Lernbehinderten. Versuche, Theorien, Forschungen, Enttäuschungen, Hoffnungen. Bern: Haupt. 4 Kronig, W. (2007). Die systematische Zufälligkeit des Bildungserfolgs: Theoretische Erklärungen und empirische Untersuchungen zur Lernentwicklung und zur Leistungsbewertung in unterschiedlichen Schulklassen. Beiträge zur Heilund Sonderpädagogik. Bern: Haupt. 5 Moser, U. & Rhyn, H. (1999). Schulmodelle im Vergleich. Eine Evaluation der Leistungen in zwei Schulmodellen der Sekundarstufe I. Aarau: Sauerländer. 6 Moser, U. & Angelone, D. (2008). PISA 2006: Porträt des Kantons Aargau (Forschungsgemeinschaft PISA Deutschschweiz/FL, Hrsg.). Zürich: KDMZ. 7 Bildungsdirektion des Kantons Zürich, Bildungsplanung (2009). Die Sekundarschule der Zukunft: ein Porträt aus der Schulpraxis. 8 Baumert, J. & Artelt, C. (2003). Bildungsgang und Schulstruktur. Pädagogische Führung 14(4), S. 188- 192. 9 Economiesuisse (2010). Volksschule: Fokus auf das Wesentliche. Dossierpolitik, 22. Juni 2010, Nr. 10.
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