«Die Religionsartigkeit der Internetnutzung zeigt sich an mythologischen Vorstellungen über die Funktionsweise digitaler Dienste, an deren ritualisierter Nutzung sowie an transzendenten Erfahrungen mit Digitaldiensten», erläutert Michael Latzer. Ein knappes Drittel der Bevölkerung (30%) denkt, dass vorgeschlagene Inhalte in sozialen Netzwerken oder Gesundheits- und Wohlbefinden-Apps von einer unerklärbaren, höheren Instanz gesteuert werden. Bei einem Viertel der Bevölkerung (27%) wird die Internetnutzung zu einer Art Ritual: sie beginnen und beenden ihren Tag damit. Zwischen 10% und 19% der Internetnutzerinnen und -nutzer berichten von transzendenten Erfahrungen, mit denen die üblichen Grenzen des Alltäglichen überschritten werden. Bei Jüngeren sind diese Hinweise auf eine digitale Alltagsreligion stärker ausgeprägt: 4 von 10 der 14- bis 19-Jährigen (38%) geben an, dass die regelmässige Nutzung dieser Dienste ihnen helfe, über ihre unmittelbaren Lebensumstände hinauszuwachsen. Ein gutes Drittel dieser jüngsten Gruppe stimmt zu, dass ihnen bei Problemen die Nutzung ihrer bevorzugten digitalen Dienste geistigen Frieden verschaffe (36%). Cyborgisierung steckt in den Kinderschuhen Die als Cyborgisierung bezeichnete Verschmelzung von Mensch und Technik verstärkt die Religionsartigkeit der Digitalisierung. Mittels Cyborg-Technologien werden transhumanistische Ziele, also die Überwindung menschlicher Grenzen, und damit auch göttliche Eigenschaften wie Allwissenheit und ewiges Leben angestrebt. Die Studie untersucht medizinisch nicht notwendige Cyborg-Technologien zur Selbstoptimierung wie aufklebbare Pflaster zur elektronischen Stimulation des Gehirns oder in die Hand implantierte Chips zum Bezahlen. Sie werden verwendet, um die körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu verbessern, biologische Grenzen zu überschreiten und dadurch Lebensdauer und Wohlbefinden zu steigern. Ein gutes Drittel der Schweizer Online-Bevölkerung kennt an den Körper angebrachte (37%) oder in den Körper implantierte (35%) Cyborg-Technologien. Die Verbreitung ist aktuell gering und liegt im tiefen einstelligen Prozentbereich. 4 von 10 Nutzerinnen und Nutzer glauben aber, dass sie durch deren Einsatz ihren Alltag deutlich bequemer gestalten könnten (39%). Gleichzeitig besteht ein hohes Risikobewusstsein, insbesondere in Bezug auf Cyberkriminalität (78%) und Privatsphäre-Verletzungen (70%). 3 von 10 Personen wünschen sich, dass der Staat solche neuen Technologien stärker einschränkt (31%). Jede zehnte Person (9%) gibt an, dass sie an den Körper angebrachte Cyborg-Technologien nutzen möchte, sobald sie verfügbar und erschwinglich sind. 6% können sich vorstellen, einen Chip implantieren zu lassen. Insgesamt sind Jüngere und Männer solchen Technologien gegenüber optimistischer eingestellt. Auch der transhumanistische Glaube an eine technisch steuerbare Evolution menschlicher Fähigkeiten ist bei Jüngeren stärker ausgeprägt. Sie vertreten stärker den Glauben, dass neue digitale Technologien fast alle Probleme in der Gesellschaft lösen können (14- bis 19-Jährige: 21%, 70+: 4%). Insgesamt fühlen sich 2023 weniger Personen der Informationsgesellschaft zugehörig (47%) als in den Vorjahren. «Das Aufkommen von Künstlicher Intelligenz oder Cyborg-Technologien scheint mit einer gewissen Verunsicherung einherzugehen», so Michael Latzer. Zunehmende Abschreckungseffekte wegen Online-Überwachung Die seit 2011 zum siebten Mal von Michael Latzer und seinem Team durchgeführte Studie zeigt, dass 4 von 5 Schweizer Internetnutzerinnen und -nutzer ihr Online-Kommunikationsverhalten aufgrund eines Überwachungsgefühls selbst einschränken: Dies bei der Preisgabe persönlicher Informationen (83%), bei der Informationssuche (81%) und beim Äussern von Gefühlen oder Meinungen (79%). Im Vergleich zu 2019 und 2021 liegt dieser Anteil um rund 20 Prozentpunkte höher. Unter 20-Jährige erleben solche, auch als 'Chilling Effects' bezeichneten Abschreckungseffekte, am häufigsten. Steigend ist auch die Angst vor Privatsphäreverletzungen durch Regierungen (37% 2023 vs. 27% 2021). Darüber hinaus glaubt nur ein geringer und sinkender Anteil, seine Privatsphäre online kontrollieren zu können (28% 2023 vs. 41% 2021). Dennoch denkt die Mehrheit in der Schweiz (61%), dass das Internet für die Gesellschaft eine gute Sache ist. Nachhaltigkeit der Digitalisierungsschübe durch Covid variiert Seit der Covid-Pandemie hat sich die Zeit, die Schweizerinnen und Schweizer online verbringen, noch einmal deutlich gesteigert: Heute sind es im Schnitt 5,5 Stunden pro Tag (2021: 4,5 Stunden). Ein zunehmender Anteil (36%) denkt, dass dies bereits deutlich mehr Internetkonsum ist als erwünscht (2017: 24%). Der digitalisierte Alltag der Bevölkerung hat sich im letzten Jahrzehnt stark gewandelt: 2023 nutzt jede zweite Person (53%) Gesundheitstracking-Apps zur Selbstvermessung, für jede dritte Person (33%) gehören Sprachassistenten wie Siri oder Alexa zum Alltag. WhatsApp hat sich zur universell verbreiteten Kommunikationsinfrastruktur gesteigert (94%) und eine klare Mehrheit konsumiert online Musik (67%), Videos (74%) oder Podcasts (65%). Soziale Medien sind gerade für die Jungen auch beruflich attraktiv: 3 von 10 der 14- bis 19-Jährigen hegen den Berufswunsch «Influencer/in». Die durch die Covid-Pandemie ausgelösten Digitalisierungsschübe entwickeln sich unterschiedlich. Sie erweisen sich beim Arbeiten von zuhause am nachhaltigsten: Während der Pandemie arbeiteten Berufstätige, deren Arbeit grundsätzlich im Homeoffice ausgeführt werden kann, dreimal so oft von zuhause wie davor (61% vs. 19% der Arbeit). 2023 liegt der Anteil bei eineinhalb Tagen (32%). Das bargeldlose Bezahlen ist im Vergleich zur Pandemiezeit etwas zurückgegangen, das Niveau liegt jedoch höher als vor der Pandemie. Im Durchschnitt werden heute wie auch während der Pandemie ein Drittel aller Produkte online gekauft. Vor der Pandemie lag dieser Anteil bei 26%. Private Treffen finden wieder in ähnlichem Umfang wie vor der Pandemie nur selten online statt. Hier hat sich die Schweizer Online-Bevölkerung in der 2021-Befragung auch keine Verschiebung in den digitalen Raum gewünscht. «Zwischen dem durch Covid kurzfristig erzwungenen Digitalisierungsschub, dem langfristig erwünschten und dem tatsächlich eingetretenen gibt es deutliche Unterschiede», betont Michael Latzer. «Wir sehen vor allem im Berufsleben, aber auch beim Kaufen und Bezahlen von Produkten nachhaltige pandemiebedingte Digitalisierungsschübe». World Internet Project Switzerland Das World Internet Project (WIP) ist eine vergleichende Langzeitstudie. Sieerfasst in 30 Ländern die Verbreitung und Nutzung des Internets iminternationalen Vergleich und analysiert soziale, politische und ökonomische Implikationen der Internetentwicklung. Das WIP-CH-Projekt wird von der Abteilung Medienwandel & Innovation des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung (IKMZ) der Den Spezialbericht zur digitalen Alltagsreligion und zur Cyborgisierung sowie alle Themenberichte finden Sie auf http://mediachange.ch/research/wip-ch.2023zum Download.
|