Die Gaia-Mission der ESA hat den umfangreichsten Sternenkatalog der Menschheitsgeschichte hervorgebracht, inklusive hochpräziser Messungen von fast 1,7 Milliarden Sternen sowie bisher nicht sichtbaren Details unserer Galaxie. Für die langersehnte Veröffentlichung dieses Katalogs wurde der Himmel 22 Monate lang kartografiert.
"Die von Gaia gesammelten Beobachtungen definieren die Grundlagen der Astronomie neu", sagt Günther Hasinger, ESA-Direktor für Wissenschaft. Gaia: Der "galaktische Zensus" nimmt Form an "Gaia ist eine ambitionierte Mission, die auf dem Prinzip der Zusammenarbeit beruht. Anders könnten die enormen Mengen hochkomplexer Daten überhaupt nicht zufriedenstellend ausgewertet werden. Und sie zeigt, wie wichtig langfristige Projekte für das Vorankommen von Weltraumwissenschaft und -technologie sind. Dafür werden in den kommenden Jahrzehnten auch noch weitaus wagemutigere wissenschaftliche Missionen notwendig werden." Die Weltraumsonde Gaia startete im Dezember 2013 ins All und hat im darauffolgenden Jahr den wissenschaftlichen Betrieb aufgenommen. Die ersten Daten, die auf Beobachtungen eines guten Jahres basierten, wurden 2016 veröffentlicht und brachten Aufschluss über Entfernungen und Bewegungen von 2 Millionen Sternen. Die nun veröffentlichten Daten decken den Zeitraum zwischen dem 25. Juli 2014 und dem 23. Mai 2016 ab und bestimmen die Positionen von fast 1,7 Milliarden Sternen - und zwar präziser als je zuvor. Für einige der hellsten beobachteten Sterne wurde die jeweilige Position so genau definiert, als wenn man von der Erde aus die genaue Stelle einer auf der Mondoberfläche liegenden Euromünze feststellen könnte. Mit solch genauen Messungen kann man nun die Parallaxe von Sternen, also ihre scheinbare Positionsänderung am Himmel, die tatsächlich von der jährlichen Sonnenumkreisung der Erde hervorgerufen wird, von deren tatsächlicher Bewegung durch die Galaxie trennen. Der neue Katalog listet die Parallaxe und die Radialgeschwindigkeit, also ihre Eigenbewegung, für über 1,3 Milliarden Sterne auf. Die genauesten Parallaxenmessungen, dies betrifft etwa 10 Prozent aller Messungen, erlauben es Astronomen, die Entfernungen zu einzelnen Sternen direkt abzuschätzen. "Die zweite Veröffentlichung der von Gaia gesammelten Daten stellen im Vergleich mit dem Gaia-Vorgänger Hipparcos einen wahnsinnigen Entwicklungssprung dar. Im Rahmen dieser ersten wissenschaftliche Weltraummission für Astrometrie hat der ESA-Satellit vor fast 30 Jahren etwa 118'000 Sterne vermessen", sagt Anthony Brown von der Universität Leiden in den Niederlanden. Brown ist der Vorsitzende des Gaia Data Processing and Analysis Consortium Executive (DPACE), das die Zusammenarbeit von etwa 450 Wissenschaftlern und Softwareingenieure überwacht, die den Gaia-Katalog aus den Satellitendaten erstellen. "Aber das ist noch nicht alles: Dieser einzigartige wissenschaftliche Katalog umfasst auch zahlreiche weitere Daten, zum Beispiel zu den Eigenschaften der Sterne und anderer Himmelsobjekte. Das macht dieser Veröffentlichung zu einem unfassbar wertvollen wissenschaftlichen Schatz." Der umfangreiche Datensatz bietet der astronomischen Gemeinde Erkenntnisse zu ganz unterschiedlichen Themenbereichen. Zusätzlich zu ihren Positionen bieten die Daten Angaben zu der Helligkeit sämtlicher kartografierter Sterne sowie Farbmessungen (zu fast allen Sternen). Dazu gibt es Informationen darüber, wie sich die Helligkeit und die Farbe einer Halbe Millionen variabler Sterne im Zeitverlauf verändert. Ausserdem werden für 7 Millionen Sterne die Radialgeschwindigkeiten entlang der Sichtlinie angegeben, für etwa 100 Millionen Sterne die Oberflächentemperatur sowie für 87 Millionen die Auswirkungen von interstellarem Staub. Gaia beobachtet darüber hinaus Objekte in unserem Sonnensystem. So umfasst die zweite Datenveröffentlichung die Positionen von über 14'000 bekannten Asteroiden, was die genaue Bestimmung ihrer Orbits erlaubt. Zukünftige Veröffentlichungen von Gaia-Daten werden Angaben zu weit mehr Asteroiden umfassen. In noch weiterer Entfernung hat Gaia die Positionen einer Halbe Millionen Quasare bestimmt. Im Mittelpunkt dieser Galaxien befinden sich supermassive schwarze Löcher. Diese Angaben werden verwendet, um einen Referenzrahmen für die Himmelskoordinaten sämtlicher Objekte im Gaia-Katalog zu definieren. Dafür werden üblicherweise Radiowellen erfasst; Gaia hat nun das erste mal optische Lichtwellenlängen aufgezeichnet. Die wissenschaftliche Auswertung der neuen Gaia-Daten wird zu bahnbrechenden Entdeckungen führen. Bereits die erste Untersuchung des Datenkonsortiums, die auch durchgeführt wurde, um die Qualität des Kataloges zu bestätigen, hat einige Überraschungen offengelegt - zum Beispiel neue Erkenntnisse zur Entstehung von Sternen. Galaktische Archäologie "Die neuen Gaia-Daten sind so leistungsfähig, dass ich jede Menge aufregende Ergebnisse erwarte", sagt Antonella Vallenari vom Istituto Nazionale di Astrofisica (INAF) und dem Astronomischen Observatorium von Padua, Italien, sowie stellvertretende Vorsitzende des DPACE. "Zum Beispiel haben wir mit den neuen Gaia-Daten das umfangreichste Hertzsprung-Russell-Diagramm aller Zeiten erstellt. Daran können wir jetzt schon einige interessante Trends festmachen. Wir läuten gerade eine neue Ära der galaktischen Archäologie ein." Benannt nach den beiden Astronomen, die es Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt haben, vergleicht das Hertzsprung-Russell-Diagramm die intrinsische Helligkeit der Sterne mit ihrer Farbe. Das macht es zu einem grundlegenden Werkzeug zum Untersuchen von Sternpopulationen und ihrer Entwicklung. Die neue Version dieses Diagramms basiert auf Daten aus dem Gaia-Katalog, und zwar zu 4 Millionen Sternen in einer Entfernung von bis zu 5 Lichtjahren von der Sonne. Es offenbart feinste, bisher unbekannte Einzelheiten, zum Beispiel zur Zusammensetzung unterschiedlicher Weisser Zwerge, also den abgestorbenen Überresten von Sternen wie unserer Sonne. Anhand dieser Informationen kann man nun solche mit wasserstoffreichen Kernen von solchen mit heliumdominierten Kernen unterscheiden. In Kombination mit den Gaia-Messungen zu den Radialgeschwindigkeiten können Astronomen anhand des Diagramms jetzt unterschiedliche Sternpopulationen aus unterschiedlichen Epochen in verschiedenen Regionen der Milchstrassengalaxie (etwa in Scheibe oder im Ring) und mit heterogenen Entstehungsgeschichten differenzieren. Weitere Untersuchungen lassen darauf schliessen, dass die sich schnell bewegenden Sterne, von denen man bisher dachte, dass sie zum Ring gehören, tatsächlich zwei Sternpopulationen umfassen, die auf unterschiedliche Art und Weise entstanden sind. Auch diese Vermutung verlangt nach weiterer detaillierter Forschung. "Gaia wird unser Wissen über das Universum auf jeder Ebene entscheidend voranbringen. Sogar bisher unbekannte Details über sonnennahen Regionen wurden durch Gaia bekannt - also für ein Gebiet, von dem wir bislang angenommen haben, dass wir es am allerbesten verstehen", sagt Timo Prusti, Gaia-Projektwissenschaftler bei der ESA. Die Rotation der Grossen Magellan'schen Wolke Für eine Teilmenge an Sternen in einer Entfernung von einigen Tausend Lichtjahren von der Sonne hat Gaia die Radialgeschwindigkeit in allen drei Dimensionen gemessen. An diesen Informationen lassen sich Bewegungsmuster von Sternen, die die Galaxie ähnlich schnell umkreisen, ablesen. Weitere Analysen werden zeigen, womit diese Muster zusammenhängen: Mit Störungen aus dem galaktischen Zentrum, etwa in Form einer länglichen, dichteren Sternenkonzentration, mit dem Spiralarm-Aufbau der Milchstrasse oder mit der Interaktion mit kleineren Galaxien, die vor Milliarden von Jahren mit dem Milchstrassensystem verschmolzen sind? Gaia misst so genau, dass man sogar die Bewegung von Sternen in einigen Kugelsternhaufen beobachten kann. Diese altertümlichen Sternsysteme im Ring der Milchstrasse werden durch Gravitation zusammengehalten. Aber auch Sterne in benachbarten Galaxien, nämlich der Kleinen und der Grossen Magellan'schen Wolke, werden nun dank Gaia sichtbar. Die Gaia-Daten wurden auch genutzt, um die Umlaufbahnen von 75 Kugelsternhaufen sowie zwölf Zwerggalaxien, die um die Milchstrasse kreisen, abzuleiten. Diese überaus wichtigen Informationen lassen auch Rückschlüsse auf die Entstehung unserer Galaxie und ihrer Umwelt zu, sowie zu den wirkenden Gravitationskräften und der Verteilung der Dunklen Materie, die die gesamte Galaxie durchdringt. "Gaia ist Astronomie vom Feinsten", sagt Fred Jansen, Gaia-Missionsmanager bei der ESA. "Diese Daten werden die Wissenschaft für viele Jahre beschäftigen und wir erwarten freudig die Flut von aufregenden Erkenntnissen, die die Geheimnisse unserer Galaxie entschlüsseln werden." Mehrere Fachaufsätze, die die Daten dieser Veröffentlichung sowie deren Validierungsprozess beschreiben, werden in einer Sonderausgabe der Fachzeitschrift Astronomy & Astrophysics erscheinen. Die Aufgabe der ESA-Mission Gaia ist die Kartografierung von über 1 Milliarde Sternen in unserer Galaxie und ihrer unmittelbaren Nähe. Damit soll eine möglichste präzise dreidimensionale Karte des Milchstrassensystems angefertigt sowie Fragen nach dessen Struktur, Entstehung und Entwicklung beantwortet werden. Das Data Processing and Analysis Consortium (DPAC) ist ein grosses paneuropäisches Expertenteam aus Wissenschaftlern und Softwareingenieuren aus zahlreichen ESA-Mitgliedsstaaten und zuständig für die Verarbeitung sowie Validierung der Gaia-Daten. Mit der finanziellen Unterstützung vieler ESA-Mitgliedsstaaten ist das Erstellen des Gaia-Katalogs das Hauptziel des DPAC. Die wissenschaftliche Analyse der Daten findet erst nach deren Veröffentlichung statt. In den nächsten Jahren werden weitere Datenveröffentlichungen folgen. Der endgültige Gaia-Katalog soll in den 2020ern herausgegeben werden. Dieser wird dann für die absehbare Zukunft als allgemeingültiger Sternenkatalog verwendet und spielt so eine zentrale Rolle für zahlreiche astronomische Bereiche. Die Gaia-Mission sollte ursprünglich fünf Jahre dauern und Mitte 2019 enden. Die ESA hat bereits eine Verlängerung bis Ende 2020 angekündigt; diese muss allerdings noch bis Ende dieses Jahres bestätigt werden.
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