Global gesehen ist einiges erreicht worden: Die Millenniumsziele (MDGs) trugen erstens dazu bei, dass viele Regierungen armer Länder dem Ausbau der Bildungs-und Gesundheitssysteme und der Wasserversorgung in ihrem Staatshaushalt wieder grösseres Gewicht gaben. Zwischen 1980 und 2000 hatten sie diese vielerorts vernachlässigt, nicht zuletzt, weil Weltbank und Geberländer dies wollten. Entsprechend sind in diesen Sektoren Fortschritte messbar, auch in Schwarzafrika. Die MDGs bewirkten zweitens, dass die Industrieländer einen grösseren Teil ihrer Hilfe auf die sozialen Sektoren konzentrierten und Mittel von den reicheren auf die ärmeren Entwicklungsländer umlagerten. Dass damit weniger Entwicklungsgelder zur Pflege der wirtschaftlichen und geopolitischen Eigeninteressen der Industrieländer missbraucht wurden, haben alle NGOs sehr begrüsst. Was die Schweiz und die MDGs betrifft, waren die Nullerjahre ein "verlorenes Jahrzehnt". Nur ganz zu Beginn, in den Jahren 2000/2001, gedachte der Bundesrat, entsprechend dem achten Millenniums-Entwicklungsziel das Entwicklungsbudget der Schweiz zu erhöhen. Konkrete Schritte nahm er damals in den Finanzplan auf. In der Rezession 2002/2003 wurden diese dank diverser Sparpakete alle gestrichen. Nach der finanzpolitischen "Wende" von 2003 (Wahl von Blocher und Merz) liess der Bundesrat jeden Plan fallen, das Entwicklungsbudget zu erhöhen, obwohl seine Vertreter auf internationaler Ebene weiterhin solche Erhöhungen in Aussicht stellten. Hätte die Schweiz den Finanzplan von 2001 umgesetzt, würde sie heute über 0,5 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe aufwenden. Im Zwischenbericht der Schweiz zu den Millenniumszielen, den er diesen Sommer verabschiedete, behauptet der Bundesrat zwar, die Schweiz habe die Entwicklungshilfe seit dem Jahr 2000 von 0,34% des Bruttonationaleinkommens auf 0,47% (2009) erhöht. Aber das ist Augenwischerei, denn heute werden neu auch Ausgaben für Asylsuchende in der Schweiz und sämtliche Schuldenerlasse mitgerechnet. Diese machten im letzten Jahr 22% der Entwicklungshilfe aus. Rechnete man gleich wie 2000, gäbe die Schweiz heute bloss 0,36 % für Entwicklungshilfe aus, also unwesentlich mehr als 2000. Und nur ein Viertel der bilateralen Hilfe floss in die ärmsten Länder. Der Bundesrat hat's in der Hand, im MDG-Schlussspurt der nächsten fünf Jahre wenigstens noch etwas aufzuholen. Er wird diesen Freitag voraussichtlich eine Botschaft und einen Zusatzkredit verabschieden, mit dem das Entwicklungsbudget bis 2015 auf 0,5 Prozent angehoben werden soll. Damit folgt der Bundesrat - verspätet - einem Parlamentsbeschluss von 2008. In den Vorbereitungen auf den MDG-Gipfel der Uno gingen die Meinungen der Staatenwelt weit auseinander. Inwieweit in Sachen MDGs bis 2015 weitere Fortschritte oder Rückschläge zu erwarten sind, hängt entscheidend von der Weltwirtschaft ab. Kann ein Rückfall in die Rezession nach dem Auslaufen der staatlichen Konjunkturprogramme 2010 vermieden werden? Und werden die strukturellen Probleme der Weltwirtschaft, die in die Finanz-und Wirtschaftskrise 2008/ 2009 führten, angepackt oder verschleppt? Die westlichen Regierungen, auch die Schweiz, wollten diese Fragen keinesfalls am MDG-Gipfel thematisieren. Entsprechend lehnten sie einen verbindlichen Aktionsplan ab. Das zeigt sich im vorliegenden Abschlussdokument: Das internationale NGO-Netzwerk Social Watch (Alliance Sud ist Mitglied) kritisiert, über 90 Prozent der Schlussresolution bestehe aus Formeln, die schon an früheren Konferenzen ausgehandelt worden seien. "There are no new commitments, no new money, no nothing…." Joseph Deiss, der neue Präsident der Uno-Generalversammlung, erklärte bei einem Treffen mit Alliance Sud, er hoffe, dass wenigstens die einzelnen Uno-Mitgliedsstaaten starke Aktionspläne vorstellten. Wenn das, was die Deza diesen Montag an ihrer Medienkonferenz präsentierte, typisch für solche nationalen Aktionspläne sein sollte, dann kann Deiss seine Hoffnungen schon heute begraben. Ausser dem allgemeinen Bekenntnis zu den MDGs - wir halten Kurs! - war nichts Konkreteres zu hören. Alliance Sud wird in der nächsten Zeit, neben der Frage der Finanzierung, diejenigen Beiträge der Schweiz zur Zielerreichung thematisieren, die, ohne Steuergelder zu kosten, grossen Nutzen bringen. Das achte Millenniums-Entwicklungsziel verpflichtet u.a. unsere Regierungen, die internationalen Handels-und Finanzmarktregeln so zu verändern, dass die Benachteiligung der Entwicklungsländer vermindert wird. Die Schweiz ist damit aufgefordert, ihre gesamte Politik gegenüber den Entwicklungsländern kohärenter zu machen. Also nicht mit der einen Hand Entwicklungshilfe zu geben und mit der anderen denselben Betrag oder ein Vielfaches davon von den Entwicklungsländern weg zu nehmen. Das betrifft etwa den Patentschutz, wo der Bundesrat im Interesse der Pharmaindustrie eine harte Linie vertritt. Ein rigoroser Patentschutz treibt die Preise hoch, verhindert die Produktion günstiger Generika und behindert den Zugang armer Menschen zu günstigen Medikamenten. In der Steuerpolitik verweigert die Schweiz armen Ländern einen wirksamen Informationsaustausch. Er würde ihnen helfen, den Abfluss von Geldern und die Steuerhinterziehung zu bekämpfen und mehr eigene Finanzmittel für die Bekämpfung der Armut zu generieren. Auf Schweizer Banken liegen rund 360 Milliarden Franken unversteuerte Vermögen aus Entwicklungsländern. Würden nur schon deren Erträge besteuert, hätten diese Länder jedes Jahr zusätzlich 6 Milliarden Franken zur Verfügung - mehr als das Doppelte der Schweizer Entwicklungshilfe! In Sachen Steuerfragen hat übrigens der Bundesrat zusammen mit anderen westlichen Ländern alle Punkte der Schlusserklärung des MDG-Gipfels bekämpft, die die Problematik konkreter ansprachen. Mit Erfolg!
10 Jahre sind vergangen, seit die 189 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die Millenniumserklärung verabschiedet haben. Die Absicht war lobenswert, die Ziele relativ klar. Die Zahl der von Hunger und Armut betroffenen Menschen soll halbiert, die Müttersterblichkeit um 75 Prozent verringert werden. Vom 20. bis 22. September 2010 werden sich alle diese Staaten in New York erneut treffen, um nach zwei Dritteln des Weges Bilanz zu ziehen. Haben die Staaten ihr Wort gehalten? Wird die Bilanz transparent und glaubwürdig sein? Warum müssen die Menschenrechte, gemäss Amnesty International, im Zentrum des Kampfes gegen die Armut und der in New York zu fällenden Entscheidungen stehen? Die Bilanz präsentiert sich heute sehr zwiespältig. Die Millenniums-Entwicklungsziele werden nicht erreicht werden, auch wenn es gewisse Fortschritte gibt. Heute gehen viel mehr Kinder zur Schule, mehr Leute haben Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen und die Zahl der Malariaerkrankungen ist zurück gegangen. Aber, die Finanzkrise und ihre wirtschaftlichen Folgen, die schwerwiegenden Konsequenzen des Klimawandels und die Nahrungsmittelkrise haben gemachte Fortschritte wieder zerstört. Immer noch stirbt alle drei Sekunden ein Kind. Jede Minute stirbt eine Frau aufgrund von Komplikationen während der Schwangerschaft oder bei der Geburt. Aber es wäre zu einfach, wenn die Staaten die Schuld für dieses teilweise Versagen nur auf die Wirtschaftskrise abschieben würden. Ein Misserfolg bei der Erreichung der MDGs ist nicht primär die Folge der fehlenden Ressourcen, sondern die Folge des fehlenden politischen Willens. Die Staaten haben ihre Versprechen nicht eingehalten und machen nach wie vor allein die prekäre wirtschaftliche Situation für die Nichterreichung der Ziele verantwortlich. Dies obschon vor allem der fehlende Respekt für die fundamentalen Rechte der in Armut lebenden Menschen für die Misserfolge verantwortlich ist. Armut ist nicht nur eine Frage des Geldes. Nebst diesem Mangel, aufgrund fehlender finanzieller Mittel, bedeutet Armut auch Ausgrenzung, Diskriminierung, Stimmlosigkeit und ein Leben in permanenter Unsicherheit. Armut ist Folge und Ursache von unzähligen Verletzungen sowohl der zivilen und politischen, als auch der ökonomischen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und den entsprechenden Konventionen von den Staaten formuliert und anerkannt wurden. Drei Beispiele: Nehmen wir Ziel 5, die Müttersterblichkeit um 75% zu reduzieren. Es genügt nicht - auch wenn dies wichtig ist - lediglich das Budget des Gesundheitssektors zu erhöhen oder zusätzliche Stellen zu schaffen. Es ist unmöglich, dieses Ziel zu erreichen, solange nicht alle Frauen Zugang zu ihren sexuellen und reproduktiven Rechten haben, die Staaten Frauen nicht mittels Gesetzen und angemessener Praktiken gegen Diskriminierung schützen und sie sich eine medizinische Behandlung nicht leisten können. Die Kriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs in vielen Ländern, wie beispielsweise in Nicaragua, bedeutet eine grosse Gefahr für das Leben von Frauen und jungen Mädchen, welche Abtreibungen heimlich machen lassen. Die meisten Schwangerschaften von jungen Mädchen in diesen Ländern sind die Folge von Vergewaltigungen und Inzest. Ziel 7 will die Lebensbedingungen von 100 Millionen Menschen, welche in Slums leben, verbessern. Es ist jedoch unmöglich, dieses Ziel zu erreichen, solange die Rechte dieser Menschen nicht respektiert werden. Jeden Tag werden unter dem Vorwand, die Slums zu säubern, tausende Menschen aus ihren Häusern vertrieben und gemäss Ziel 7, rein zahlenmässig gesehen, als Erfolg verbucht. Dabei verlieren die meisten der Vertriebenen nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre Lebensgrundlage, ihre sozialen Netzwerke oder den Zugang zu Gesundheitseinrichtungen und sanitären Anlagen, seien sie auch noch so dürftig. Kinder können nicht mehr zur Schule gehen. Die Spirale der Armut dreht sich immer schneller. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass Zwangsräumungen ein Ende gesetzt, die Betroffenen in Entscheidungsprozesse miteinbezogen, Alternativen diskutiert und die erlittenen Verluste angemessen entschädigt werden. Die MDGs ignorieren weitgehend entscheidende Faktoren wie Diskriminierung und Gender, insbesondere, dass 70% der in Armut lebenden Menschen Frauen sind. Bei der Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele müssen diese Faktoren mit berücksichtigt werden. In New York werden ermutigende Zahlen präsentiert werden, welche vor allem auf dem aussergewöhnlichen Wachstum des BIPs gewisser Schwellenländer beruhen. Diese Zahlen täuschen jedoch. Die Bilanz der MDGs kann und darf nicht allein auf makroökonomischen Grössen basieren. Im Gegenteil, es geht darum, näher hinzuschauen, ob die erzielten Fortschritte nicht letztlich auf Kosten der am meisten benachteiligten und diskriminierten Bevölkerungsgruppen zustande kamen. Sogar das Wachstum der Entwicklungshilfe, welches die Schweiz präsentieren wird, täuscht ein nicht vorhandenes reales Wachstum vor, wie Peter Niggli, der Geschäftsleiter von Alliance Sud, darlegte. Am Gipfel in New York wird viel über Menschen- und Frauenrechte gesprochen werden. Vielleicht wird sogar in der Schlusserklärung darauf Bezug genommen. Welche Probleme bleiben? Das Hauptproblem ist die grosse Kluft zwischen Worten und Taten. Die Millenniums-Entwicklungsziele sind in vielen Belangen minimalistisch, aber realistisch. Um sie zu erreichen genügt es nicht, sie in New York erneut zu bekräftigen, sondern es braucht einen Aktionsplan, der die folgenden drei Forderungen berücksichtigt: - Aufgrund einer Evaluation, die aufzeigt, wie weit die realisierten Fortschritte auch die Frauen und die besonders benachteiligten und diskriminierten Gruppen erreicht haben, soll ein Aktionsplan mit klar definierten Zielen formuliert werden, welcher die Menschenrechte ins Zentrum stellt. - Zweites sollen die von Armut betroffenen Menschen in die Planung und Einscheidungsfindung mit einbezogen werden. Der Kampf gegen die Armut kann nur mit der aktiven Beteiligung der Betroffenen gewonnen werden. Die Menschen müssen als Teil der Lösung und nicht nur des Problems gesehen werden. - Drittens braucht es konkrete Massnahmen im Aktionsplan zur Einführung von Kontrollmechanismen und einer verbindlichen Rechenschaftspflicht der Staaten (Accountability), die es betroffenen Menschen ermöglicht, auch auf einer gesetzlichen Ebene, ihre Rechte einzufordern. Angesichts der enormen Herausforderungen und der Tragweite der anstehenden Entscheidungen braucht es ein klares Bekenntnis aller Beteiligten, die Ziele erreichen zu wollen, damit das Gipfeltreffen mehr wird als ein weiteres leeres Versprechen. Die Schweiz kann und muss in New York eine wichtige Rolle spielen, da sie zudem das Präsidium der Generalversammlung inne hat. Dabei muss sie sich bewusst sein, dass sie nur glaubwürdig sein kann, wenn sie die Menschenrechte nicht bloss als ein Exportprodukt betrachtet, sondern auch im Inland eine kohärente Politik gegenüber benachteiligten und verletzlichen Personengruppen betreibt.
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