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Sozialstaat
Schweiz: Altersarmut 2009 |
Pro
Senectute: Studie zur Altersarmut |
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Referat
von Kurt Seifert, Pro Senectute Schweiz, Co-Autor der Studie |
Pro
Senectute präsentiert eine Studie zu einem Thema, über das man
nicht so gerne spricht. Wir haben es bereits von den Vorrednern gehört:
Armut passt schlecht in das Bild eines Landes, das trotz der sich ausweitenden
Wirtschaftskrise immer noch als sehr wohlhabend bezeichnet werden darf. Armut im Alter passt noch weniger in ein Bild, das von finanziell gut
situierten Pensionierten geprägt wird.
Ein
beachtlicher Teil der privaten Vermögen in der Schweiz konzentriert
sich in den Händen von über 60-Jährigen. Gemäss
einer vom Bundesamt für Sozialversicherungen im letzten Jahr veröffentlichten
Studie verfügt jedes siebte Rentnerpaar
in der Schweiz über ein Nettovermögen von über einer Million
Franken. Kein Wunder, dass Geschichten
über «reiche Rentner» die Wahrnehmung des Alters in unserem
Land bestimmen.
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Damit
wird allerdings eine entscheidende Tatsache übersehen:
In
keiner Generation sind die Unterschiede zwischen Reich und Arm grösser
als in jener der Rentnerinnen und Rentner. Auf der einen Seite sammeln sich die Vermögen, die durch Erbschaften
noch vergrössert werden - auf der anderen Seite stehen Rentnerhaushalte,
die kaum über jene materiellen Mindestreserven verfügen, mit
denen sie unvorhergesehene oder ausserordentliche Auslagen deckten könnten. |
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Mit
der globalen Wirtschaftskrise gewinnt dieses Thema leider eine Aktualität,
die vor dem Ausbruch der Krise so noch nicht absehbar war. Das bedeutet
nun nicht, dass Massenarmut im Alter unmittelbar vor der Türe stünde.
Doch die gegenwärtige grosse Rezession, über deren Tiefe und
Ausmass die Meinungen der Experten und Expertinnen auseinandergehen, lässt
das System der Altersvorsorge nicht unberührt.
Bei einer längeren
Dauer mit stärkeren Folgen als den bereits absehbaren muss mit härter
werdenden gesellschaftlichen Verteilungskämpfen gerechnet werden.
Für solche Kämpfe bietet sich die Generationenfrage geradezu
als vermeintliches Erklärungsmuster an! So könnte beispielsweise
argumentiert werden, die Pensionierten sollten vermehrt die Folgekosten
der Wirtschaftskrise tragen - schliesslich seien sie doch insgesamt wohlhabend.
Es würde dabei übersehen, dass die Existenz einer Mehrheit
von Rentnerinnen und Rentnern unmittelbar von einem funktionierenden Altersvorsorgesystem
abhängt. Würden hier substanzielle Einschnitte erfolgen,
wäre eine schnell wachsende Armut im Alter die Folge.
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In
der Sozialberatung erfahren die Mitarbeitenden von Pro Senectute die Wirklichkeit
von Frauen und Männern, die im Schatten stehen und mit wenig Mitteln
knapp durchkommen müssen. Das Engagement für sozial und wirtschaftlich
schwächere alte Menschen stellt seit der Gründung vor über
90 Jahren einen Schwerpunkt der Arbeit von Pro Senectute dar. |
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Mit
niederschwelligen Beratungs-und Unterstützungsangeboten kommt unsere
Organisation sehr nahe an die Betroffenen heran und erhält dadurch
einen tiefen und breiten Einblick in die Lebenssituation ihrer Klientinnen
und Klienten. Man darf mit Recht sagen, dass in der Praxis unserer Stiftung
ein reiches Erfahrungswissen vorhanden ist, das wertvolle Erkenntnisse
über Formen der Armut im Alter liefern kann.
Die
heute vorliegende Studie wurde von der Geschäftsleitung von Pro Senectute
Schweiz mit der Absicht in Auftrag gegeben, den in der Sozialberatung vorhandenen
Erfahrungsschatz zu dokumentieren und einer breiteren öffentlichkeit
zugänglich zu machen. Die Veröffentlichung der Studie Leben mit
wenig Spielraum. Altersarmut in der Schweiz ist ein erster Schritt auf
diesem Weg. Sie soll auch unsere eigene Organisation dazu anregen, sich
verstärkt mit dem Thema der materiellen und daraus folgend auch der
sozialen Not auseinanderzusetzen, das am Ursprung unserer Stiftung steht.
Für
die Studie wurden sowohl quantitative wie auch qualitative Daten erhoben
und ausgewertet: Zum einen haben wir elektronische Klientendaten von etwa
5'000 Männern und Frauen analysiert, die zwischen Januar 2007 und
Juni 2008 in der Romandie und dem Kanton Tessin individuelle Finanzhilfe
von Pro Senectute in Anspruch genommen haben. Der grössere Teil der
Studienergebnisse beruht allerdings auf der Auswertung von problemzentrierten
Experteninterviews, welche wir mit Sozialarbeitenden aus unterschiedlichen
Pro-Senectute-Organisationen in 17 verschiedenen Kantonen und allen vier
Sprachregionen der Schweiz geführt haben. Doch lassen Sie mich - bevor
ich Ihnen mehr von diesen qualitativen Ergebnissen berichte - kurz die
wichtigsten Resultate aus der Analyse der erwähnten Klientendaten
zusammenfassen:
Bei
den Menschen, welche bei Pro Senectute um finanzielle Unterstützung,
sprich individuelle Finanzhilfe ersuchen, handelt es sich - unabhängig
davon, ob sie Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben, oder nicht
- um Personen, die trotz der Existenz sozialstaatlicher Unterstützungsleistungen
für das Alter in wirtschaftliche Notlagen geraten sind. Es war deshalb
zu erwarten, dass die Auswertung der entsprechenden Klientendaten Hinweise
auf die Umstände von Nachtransferarmut im Alter und damit auf Lücken
im Schweizer System der Alterssicherung zu Tage fördern würde.
In der Tat können wir bestätigen, dass gewisse Personengruppen
im Alter besonders armutsgefährdet sind und Aussagen darüber
machen, in welchen Lebensbereichen die Betroffenen besonders häufig
unterversorgt sind.
Sie
werden nicht überrascht sein, dass es sich bei über zwei Drittel
der Personen, welche im Untersuchungszeitraum im Rahmen der Einzelfallhilfe
von Pro Senectute unterstützt wurden, um Frauen handelt. Die überwiegende
Mehrheit der Bezügerinnen und Bezüger war zudem alleinstehend.
Lediglich in zehn Prozent der Fälle handelte es sich bei den Begünstigten
um Paare. Auch das erstaunt nicht. Mit beinahe 65 Prozent aller Klientendossiers
stellen alleinstehende Rentnerinnen die grösste Bezügergruppe
von finanzieller Einzelhilfe bei Pro Senectute dar. Hier bestätigen
sich die Ergebnisse anderer Untersuchungen zur finanziellen Lage von Schweizer
Rentnerhaushalten, wonach Frauen und Alleinstehende im statistischen Durchschnitt
hinsichtlich ihrer Einkommens-und Vermögensverhältnisse im Alter
deutlich benachteiligt sind.
Unabhängig
von Geschlecht und Zivilstand lebt eine Mehrheit der untersuchten Klienten
alleine in den eigenen vier Wänden. Sie sind in der Regel zwischen
70 und 89 Jahre alt. Allerdings gehören 20 Prozent der Bezügerinnen
und Bezüger der Generation der Jungrentner an, sind also bereits am
übergang zu und in den ersten Jahren nach der Pensionierung mangels
Rücklagen auf zusätzliche Unterstützung angewiesen. Der
bedeutende Anteil unterstützungsbedürftiger Jungrentner erstaunt
ein wenig, handelt es sich bei ihnen doch um eine Personengruppe, die laut
Experten bereits vom Ausbau der zweiten Säule hätte profitieren
sollen.
Die
Aufwendungen von Pro Senectute in der Romandie und dem Tessin für
die Individuelle Finanzhilfe (IF) addieren sich im Untersuchungszeitraum
zu einer Gesamtsumme von 7,8 Mio. Franken. Die Begünstigen erhielten
im Schnitt 1'776 Franken, was einem monatlichen Fehlbetrag von etwa 100
Franken entspricht. Viele der fraglichen Klientinnen und Klienten waren
nicht bloss einmal, sondern wiederholt auf Unterstützung angewiesen.
Dies ist ein Hinweis auf andauernde Unterversorgung.
Untersucht
man den Einsatz von IF-Geldern nach ihrer Bestimmung, dann zeigt sich,
dass Pro Senectute-Klienten in manchen Lebensbereichen besonders häufig
an materielle Grenzen stossen: Der grösste Teil der Mittel wird für
den Bereich Wohnen beantragt, das heisst für Mietzuschüsse, Beiträge
an die Nebenkosten, Umzüge, Mietzinsdepots etc. - eine Tatsache, die
klar in Zusammenhang mit den Preisentwicklungen auf dem Wohnungs-und Energiemarkt
zu sehen ist. Ebenfalls ins Auge fällt, dass auch in den Bereichen
Gesundheit und Hilfsmittel oft die Finanzen fehlen, und das, obwohl die
bundesrechtlichen Bedarfsleistungen krankheits-und behinderungsbedingte
Auslagen vergleichsweise umfassend abdeckt.
Kommen
wir nun zum Kernstück der vorliegenden Studie, den Ergebnissen aus
den Gesprächen mit Sozialarbeitenden.
Fragt
man Sozialarbeitende nach den Gründen für die schwierige Situation
ihrer Klientinnen und Klienten, so können sie meist ein ganz konkretes
Ereignis nennen, auf das hin sich die betroffene Person bei Pro Senectute
meldete: der Tod des Ehemannes, eine unerwartet hohe Heizkostenrechnung,
ein Unwetter mit Schadensfolge. Die Ursachen für Notlagen im Alter
sind aber vielschichtig und liegen oft weit in der Lebensgeschichte der
Betroffenen zurück. Wenn man die Wege einzelner Klienten in die Armut
nachvollzieht, stösst man immer auf ein komplexes Geflecht von gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen und biographischen Ereignissen, die mit der gegenwärtigen
schwierigen Lebenssituation in Verbindung gebracht werden können.
Grundsätzlich
sind fast alle Klientengeschichten Ausdruck davon, dass finanzielle Notlagen
im Alter eng mit einem tiefen Einkommen während der Erwerbsphase und
der daraus resultierenden ungenügenden Vorsorgesituation zusammenhängen.
Im Schweizer System der Alterssicherung, welches sich in erster Linie über
Erwerbsarbeit finanziert, generieren tiefe Löhne ein geringeres Vorsorgevolumen.
Viele der armutsbetroffenen Klienten von Pro Senectute stammen aus bildungsfernen
Schichten, waren in untergeordneter beruflicher Stellung oder in der Landwirtschaft
tätig oder ganz Familienfrau.
Die wenigsten von ihnen haben eine substantielle
zweite Säule. Neben dem tiefen sozioprofessionellen Status stellen
unterbrochene Erwerbsbiographien ein weiteres Armutsrisiko dar. So gehören
Gastarbeiter, die in den 60er und 70er Jahren in die Schweiz kamen, heute
zur schnell wachsenden Gruppe einkommensschwacher älterer Ausländerinnen
und Ausländer.
Ebenfalls als Armutsrisiko ist Arbeitslosigkeit zu
sehen. Die Benachteiligung älterer Arbeitnehmer ist besonders bei
schlechter Konjunktur deutlich. Das zeigt sich auch bei Pro Senectute.
In die Beratung kommen immer wieder Menschen, die ihre Arbeit wenige Jahre
vor der Pensionierung verlieren, ihre AHV und BV vorbeziehen und so eine
langfristiger Kürzung der Renten in Kauf nehmen. über den Erwerbsausfall
aufgrund gesundheitlicher Probleme hinaus, gehören Trennungen und
Scheidungen - und damit verbunden die Einelternschaft - noch immer zu den
wichtigsten armutsauslösenden Faktoren auch im Alter. Zwar wird die
Aufteilung des Vermögens aus der zweiten Säule im Scheidungsfall
seit 2000 gesetzlich vorgeschrieben. Derzeit betreut Pro Senectute aber
noch viele armutsbetroffene Rentnerinnen, die sich lange vor Inkrafttreten
des revidierten Scheidungsrechts von ihrem Partner getrennt haben und bei
der Aufteilung der Altersvorsorge leer ausgingen.
Finanzielle
Notlagen können auch durch unverhältnismässig hohe Ausgaben
verursacht sein - dann nämlich, wenn sie selbst augegeglichene Budgets
massiv belasten und so die Vorsorgesituation der Betroffenen schon vor
Erreichen des Rentenalters verschlechtern. So können hohe Krankheitskosten,
etwa bei chronischen Erkrankungen, oder die Langzeitpflege von Angehörigen
während Jahren Ersparnisse unmittelbar wieder auffressen. Auch die
Unterstützung erwachsener Kinder - und sei es nur die Abtretung des
eigenen Hofes an den Junior und die überschreibung der Eigentumswohnung
an die Tochter - kann ein eigentlich ausreichendes Vorsorgevolumen empfindlich
schmälern. Als armutsauslösender Faktor spielt ausserdem zunehmend
die «Zweckentfremdung» der Beruflichen Vorsorge eine Rolle.
Sozialarbeitende haben in der Sozialberatung vermehrt mit älteren
Menschen zu tun, die ihre zweite Säule in Kapitalform vorbezogen haben,
dieses Kapital ungeschickt investieren und daher im Alter ohne BV-Rente
dastehen. Befördert hat diese Entwicklung einerseits sicherlich die
vielversprechende Lage auf den Finanzmärkten und die Lockerung der
entsprechenden Bestimmungen im BVG. Welche zusätzlichen Risiken die
derzeitige Krise für Kapitalbezüger birgt, ist noch weitgehend
unbekannt. Schon heute lässt sich in der Schweiz hingegen ein Trend
hin zur zunehmenden Verschuldung älterer Menschen beobachten. Bei
den über 60-Jährigen nehmen die Privatinsolvenzen derzeit am
stärksten zu. Viele stecken schon tief in den roten Zahlen, wenn sie
ins Pensionsalter kommen.
Der
nachteilige Einfluss der genannten Faktoren auf die finanzielle Absicherung
im Alter ist gut nachvollziehbar. Es gibt aber auch diffusere Umstände
im Hintergrund von Klientengeschichten, deren ungünstige Wirkung auf
die Vorsorgefähigkeit schwerer greifbar ist. Und doch ist bzw. war
die Lebenssituation von unterstützungsbedürftigen Rentnerinnen
und Rentnern geprägt von einer mangelnden sozialen und kulturellen
Einbettung.
Wer seinen Platz in einem funktionierenden Beziehungsnetz hat,
darf auf Solidarität und Unterstützung hoffen. Dass traditionelle
Solidaritätsgemeinschaften unter dem raschen Wandel von Familienstrukturen
und der zunehmenden Mobilität in unserer Gesellschaft verstärkt
unter Druck geraten, ist auch bei Pro Senectute zu spüren. Wie ein
funktionierendes Beziehungsnetz können auch kulturelle Kompetenzen,
wie Sprachkompetenz und Wissen um die Unterstützungsmöglichkeiten,
Armutsgefährdungen auffangen helfen. Dieses Wissen fehlt oft gerade
jenen Personengruppen am meisten, die eh schon ein besonderes Armutsrisiko
tragen.
Eigentlich,
so werden Sie nun denken, weiss man über die Risiken für Altersarmut
Bescheid. Man hat in der Schweiz deshalb mit den Ergänzungsleistungen
schon 1966 ein einklagbares Recht auf Existenzsicherung im Alter eingeführt,
das die wirtschaftliche Absicherung nach der Pensionierung auch für
Personen mit ungenügender Vorsorgesituation gewährleistet. Sie
haben natürlich Recht. Doch die Erfahrungen bei Pro Senectute zeigen,
dass es im Schweizer System der Alterssicherung eine Reihe von - nennen
wir es einmal «Störungen» - gibt, die dazu führen,
dass eine beachtliche Zahl von Rentnerinnen und Rentnern trotzt der Existenz
staatlicher Transferleistungen in finanzielle Notlagen gerät.
Wir
unterscheiden in der vorliegenden Studie hauptsächlich drei Typen
von Nachtransferarmut:
Ein erstes
Störungsfeld ergibt sich aus der Tatsache, dass sozialstaatliche
Leistungen ihre Adressaten in der Regel nur über aktive Nachfrage
erreichen. Das gilt auch für die Ergänzungsleistungen zur AHV.
Längst nicht alle Anspruchsberechtigten beziehen die ihnen zustehenden
Leistungen aber auch wirklich. Bei Pro Senectute macht man die Erfahrung,
dass die meisten Klienten erst zum letztmöglichen Zeitpunkt staatliche
Hilfen in Anspruch nehmen. Bevor sie sich an eine öffentliche Stelle
wenden, verbrauchen sie alles Ersparte, leihen sich beim Sohn oder bei
der Freundin Geld, und verschulden sich womöglich. Auch wir wissen
nicht genau, wie viele ältere Menschen in der Schweiz ihren Anspruch
auf Ergänzungsleistungen gar nicht wahrnehmen und darum dauerhaft
unter dem Existenzminimum gemäss ELG leben. Die Sozialarbeitenden
erfahren aus den Gesprächen mit Klienten, die sich am Ende doch noch
überwinden, jedoch viel über die Motive für einen Verzicht
auf staatliche Unterstützung: Genügsamkeit, Pflichtbewusstsein
und Selbstverantwortungsgefühl können ebenso Gründe für
einen Nichtbezug sein wie Stigmatisierungsängste oder Informations-und
Verständnisdefizite. Nicht jeder ist gleichermassen in der Lage, seine
Rechte einzufordern. Soziale Sicherheit, so die Erfahrung bei Pro Senectute,
ist auch im Alter selektiv.
Grundsätzlich
hat jede in der Schweiz wohnhafte Person im Rentenalter Anrecht auf Ergänzungsleistungen.
Es gibt aber kleine Personengruppen, die auch heute noch von diesem Anrecht
auf Existenzsicherung im Alter ausgeschlossen sind. Daraus ergibt sich
ein zweites Störungsfeld. Der Leistungsanspruch auf EL misst
sich am Monatseinkommen. Wer als Einzelperson mehr als 1'560 Franken (zuzüglich
der Kosten für Wohnen und Krankenkasse) zur Verfügung hat, verliert
seinen Anspruch, auch wenn es nur ein paar Franken zuviel sind. Problematisch
ist dieser Sachverhalt, weil Betroffene mit dem Wegfall des Anspruchs gleichzeitig
von einer ganzen Reihe weiterer Vergünstigungen (kantonale und kommunale
Bedarfsleistungen, billag) ausgeschlossen und ausserdem steuerrechtlich
(z.B. quasi Steuerbefreiung von EL-Bezügern) und betreibungsrechtlich
(EL können nicht gepfändet werden) benachteiligt werden.
Nicht
selten müssen daher Rentner, die knapp über der Anspruchsgrenze
leben, am Ende mit weniger Geld auskommen und landen unter dem Existenzminimum
gemäss ELG. Wir haben es hier also mit eigentlichen Schwelleneffekten
zu tun. Vom Unterstützungsanspruch ausgeschlossen sind auch Rentner,
die über fiktive Vermögenswerte und Einkünfte verfügen.
Es handelt sich dabei um finanzielle Ressourcen, die auf dem Papier zwar
vorhanden sind, den Betroffenen jedoch nicht zur Verfügung stehen.
Bestes Beispiel hierfür sind Personen, die mit einer kleinen AHV-Rente
in einem kleinen alten Häuschen wohnen, das ihnen gehört. Aufgrund
der
Immobilie haben sie keinen Anspruch auf Unterstützung. Verkaufen lässt
sich das Haus nicht. Und zum Leben bleibt einfach zu wenig Geld übrig.
Und schliesslich gibt es auch Rentnerinnen und Rentner, die sich noch zuwenig
lange an ihrem Wohnort aufhalten, als dass sie Anrecht auf Bedarfsleistungen
hätten. Der Regelung auf Bundesebene entsprechend gilt nämlich
auch für kantonale und kommunale Beihilfe eine Karenzfrist von zehn
Jahren. Die steigende Mobilität im Alter bringt mit sich, dass immer
mehr Menschen auch noch nach der Pensionierung umziehen. Wechseln sie dabei
den Kanton, verlieren sie während zehn Jahren das Anrecht auf kantonale
Bedarfsleistungen.
Ein drittes
Störungsfeld ergibt sich aus der Tatsache, dass Ergänzungsleistungen
systembedingt einen gewissen Standardisierungsgrad aufweisen. Sie definieren
nach dem Prinzip «Jedem das Gleiche» einen allgemeinen Bedarf
im Alter. Diesen decken sie ab. Der individuellen Lebenssituation des Einzelnen
können sie nur begrenzt Rechnung tragen. Im Einzelfall können
daher immer wieder Kosten entstehen, die durch die Bedarfsleistungen nicht
oder ungenügend abgedeckt werden. Prominentestes Beispiel hierfür
sind ungedeckte Kosten für Wohnen und Energie. Während der letzten
Jahre hat sich das Wohnen in der Schweiz massiv verteuert. Gleichzeitig
stiegen die Energiepreise. Trotz dieser Entwicklung ist der Maximalbetrag
für Wohnauslagen im ELG seit 2001 unverändert geblieben. Besonders
in Zentrums-und teuren Tourismusregionen müssen viele ältere
Menschen sich das Mehr an Miete vom Mund absparen.
Auch
im Bereich Gesundheit deckt die Ergänzungsleistung nicht den gesamten
Bedarf ab. Gewisse Hilfsmittel, wie etwa eine Brille, werden nicht subventioniert.
Auch aus der Differenz zwischen den im ELG festgelegten Qualitätskriterien
für therapeutische und pflegerische Leistungen und der Angebotsrealität
auf dem Gesundheitsmarkt ergeben sich Finanzierungslücken. Gibt es
in einem Dorf keine medizinische Fusspflegerin, muss eine Rentnerin entweder
in die nächste grössere Ortschaft reisen oder ansonsten ihre
Pediküre selbst bezahlen. Ein bisher ungelöstes Problem stellen
auch die hohen Kosten für stationäre Pflege dar.
Es ist kein
Geheimnis, dass Ergänzungsleistungen in der Schweiz immer öfter
die Rolle einer Pflegeversicherung spielen müssen. Und manchmal reicht
selbst das nicht aus. Sozialarbeitende beraten immer wieder Angehörige
älterer Menschen, die aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit fürsorgeabhängig
werden. Auch bei den allgemeinen Lebenshaltungskosten ist der Spielraum
eines EL-Bezügers klein. Doch während man soziale und kulturelle
Bedürfnisse bei knapper Kasse zurückstellen kann, ist das bei
den Steuern nicht möglich.
Da das ELG keinen Steuerbetrag vorsieht,
müssen Betroffene die Steuerraten bei den allgemeinen Lebenshaltungskosten
einsparen. Steuern stellen daher für einkommensschwache Rentnerhaushalte
eine enorme Belastung dar. Die Geschichten von Rentnern, die trotzt des
Bezugs existenzsichernder Transferleistungen vom Staat nicht über
die Runden kommen, sind keine Einzelfälle. Allein im Jahr 2007 musste
Pro Senectute schweizweit etwa 15'000 Menschen mit individueller Finanzhilfe
unterstützen. Tendenz steigend. Das gesetzlich garantierte Existenzminimum
für das Alter gerät hierzulande zunehmend unter Druck.
Objektiv
betrachtet ähneln sich die Lebenssituationen und Notlagen der Menschen,
die Unterstützung bei Pro Senectute suchen, in vielerlei Hinsicht.
Doch neben diesen typologisierbaren Umständen von Altersarmut darf
man eines nicht vergessen: Armut ist bei alldem vor allem auch eine persönliche
Erfahrung. Betroffene erleben ihre Situation sehr unterschiedlich und leiden
individuell verschieden unter ihrer Benachteiligung.
In der Studie haben
wir versucht, auch solche subjektiven Armutserfahrungen zu beschreiben.
Sie reichen von der ganz unmittelbar erlebten Beeinträchtigung bei
der Pflege äusserlich sichtbarer Statussymbole und gesellschaftlicher
Rollen (wenn beispielsweise der Coiffeurbesuch einfach nicht mehr drin
liegt und Frau sich nicht mehr vor die Tür traut, oder wenn das Geschenk
für die Enkel an Weihnachten einmal wieder ausfallen muss.) über
die Erfahrung, von gesellschaftlicher Teilhabe weitgehend ausgeschlossen
zu sein (wenn zum Beispiel auf den Vereinsausflug verzichtet wird, weil
erstens die Wanderschuhe hinüber sind und zweitens die Zugfahrt das
Budget übersteigt.);...
über den gefühlten Verlust von Selbstständigkeit
und Selbstbestimmung (wenn beispielsweise der öffentlichen Hand gegenüber
Rechenschaft über die eigene finanzielle Situation abgelegt werden
muss, oder wenn andere bestimmen, in welchem Pflegeheim man untergebracht
wird.);...
bis hin zur Aufgabe der Hoffnung auf ein annehmbares Altern und
ein würdiges Sterben und damit zur Infragestellung der Identität
der Betroffenen in ihrem innersten Kern (wenn Betroffene beispielsweise
realisieren, dass sich ihre Situation in diesem Leben nicht mehr ändern
wird, und die finanziellen Sorgen jedes zukunftsgerichtete Planen und Handeln
verunmöglichen).
Aus
der Analyse der objektiven Lage wie der subjektiven Wahrnehmung von Armutsbetroffenen
ergeben sich Schlussfolgerungen für das Handeln. Die Massnahmenvorschläge
im vierten Teil der Studie sind als Anregungen der Autorin und des Autors
für die öffentliche wie die organisationsinterne Debatte gedacht.
Die in der Studie präsentierten Vorschläge stellen das System
der schweizerischen Altersvorsorge nicht grundsätzlich in Frage. Sie
verweisen auf Schwachstellen in diesem System und wollen darauf aufmerksam
machen, dass es dort Lücken gibt, die nicht nur Einzelfälle betreffen.
Aus
den Interviews mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern sowie durch
die Auswertung der vorhandenen Literatur zum Thema wurde deutlich, dass
Steuerverpflichtungen eine grosse Belastung für das Budget einkommensschwacher
älterer Menschen darstellen und zu den häufigsten Risikofaktoren
für Nachtransferarmut im Alter gehören. Je nach Wohnkanton und
-ort sowie Zusammensetzung der Einkommen werden Rentnerhaushalte sehr ungleich
behandelt. Eine Steuerbefreiung des Existenzminimums gemäss Bundesgesetz
über Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (ELG) könnte hier
eine Erleichterung bringen. Der Vorteil einer solchen Regelung wäre,
dass sie auch andere Altersgruppen einkommensschwacher Personen erreichen
würde.
Ein
besonders dringliches Problem stellen die Höchstsätze der anrechenbaren
Wohnkosten im ELG dar. Steigende Mieten und höhere Energiekosten haben
dazu geführt, dass immer mehr Bezügerinnen und Bezüger von
Ergänzungsleistungen ihre effektiven Wohnkosten nicht mehr vollumfänglich
über die EL finanzieren können. Die Maximalbeträge sind
seit 2001 nicht mehr angehoben worden. Den Fehlbetrag müssen die Betroffenen
aus den ohnehin knappen Mitteln zur Bestreitung der allgemeinen Lebenshaltungskosten
decken. Das Anliegen einer Anpassung dieser Höchstsätze greifen
auch zwei parlamentarische Vorstösse vom Herbst 2008 auf. Der Bundesrat
hat sie abgelehnt, erklärte sich aber zumindest bereit, die darin
angesprochene Frage zu prüfen. Die Beratung in den eidgenössischen
Räten steht noch aus. Die vorliegende Studie könnte hier eine
Argumentationshilfe sein.
EL-Bezügerinnen
und -Bezügern werden krankheits-und behinderungsbedingte Kosten unter
bestimmten Voraussetzungen erstattet. Hingegen können Auslagen für
soziale und kulturelle Kosten nicht gesondert abgerechnet werden, sondern
müssen aus den Mitteln für die allgemeinen Lebenshaltungskosten
finanziert werden. Darin drückt sich ein bestimmtes Bild vom Alter
aus, das durch Krankheit und Rückzug geprägt wird. Aber auch
ältere Menschen mit schmalem Einkommen möchten am sozialen Leben
teilnehmen.
Deshalb müssen hier vielfach die Individuelle Finanzhilfe
oder private Organisationen einspringen, wenn es darum geht, einen besonderen
Bedarf hinsichtlich Bildung, Kultur, Kommunikation oder auch Mobilität
zu decken. Deshalb lautet der Vorschlag, es solle ein soziokultureller
Grundbedarf im ELG formuliert und entsprechend auch finanziert werden.
Dies könnte die Selbstbewältigungskräfte armutsbetroffener
älterer Menschen stärken, ist die begründbare Hoffnung,
die hinter dem Vorschlag steht.
Eine
der vorgeschlagenen Massnahmen betrifft auch die überprüfung
des Hilfsmittelkatalogs im ELG. Hier muss in vielen Fällen die Individuelle
Finanzhilfe einspringen, obwohl es bei der Anschaffung von Geräten
sehr oft darum geht, bei einer Reihe von alterstypischen Einschränkungen
die selbständige Lebensweise weiterführen zu können - und
nicht um irgendwelche ausgefallenen Bedürfnisse. Die Studie enthält
weitere Vorschläge, die hier nicht mehr im Einzelnen dargestellt werden
können. Ich bin der Auffassung, dass die vorliegende Veröffentlichung
zahlreiche Anregungen enthält, deren Umsetzung und Verwirklichung
uns dem Ziel einer Gesellschaft ohne Altersarmut näherbringen werden.
Pro
Senectute |
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Pro
Senectute ist die grösste Fach- und Dienstleistungsorganisation der
Schweiz im Dienst der älteren Menschen. Die 1917 gegründete Stiftung
richtet ihre Tätigkeit am Wohl, der Würde und den Rechten der
älteren Menschen aus. Pro Senectute ist in jedem Kanton mit einer
Geschäftsstelle und national mit rund 130 Beratungsstellen präsent.
Pro Senectute ist eine von der Stiftung ZEWO zertifizierte gemeinnützige
Organisation.
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Quelle:
Text Pro Senectute, Mai 2009 |
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