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Kanton Bern: Bericht "Jugend und Gewalt"
Bericht zum Thema "Jugend und Gewalt" - Umsetzung der Strategie
Bericht der Erziehungsdirektion an den Regierungsrat des Kantons Bern

1. Zusammenfassung

Anfangs 2007 wurde auf Initiative der Erziehungsdirektion eine interdirektionale Arbeitsgruppe Jugend und Gewalt (ERZ, POM, GEF und JGK) eingesetzt. Die Arbeitsgruppe hatte den Auftrag, einerseits bestehende Präventionsangebote des Kantons Bern aufzulisten und anderer-seits weitere Massnahmen/Ideen zu prüfen.

Am 4. Juli 2007 reichte die SP-JUSO eine Motion (M 150/2007, Blaser, Heimberg, "Massnahmen gegen Jugendgewalt") ein, die Massnahmen gegen Jugendgewalt forderte. Der Regierungsrat empfahl dem Grossen Rat die Motion anzunehmen. Sie wurde denn auch am 29. November 2007 vom Grossen Rat einstimmig überwiesen. Der Regierungsrat wurde damit beauftragt, ein umfassendes Konzept gegen Jugendgewalt zu erstellen, welches auf den Säulen Prävention, Therapie, Schadenminderung und Repression aufbaut. Ebenfalls Mitte 2007 reichte die EVP eine Motion ein, welche "Gewaltprävention und Krisenkonzepte für Berner Schulen" forderte (M 139/2007, Sommer, Melchnau). Am 29. Januar 2008 wurden die Punkte 1, 3 und 4 als Motion und Punkt 2 als Postulat überwiesen.

Der Regierungsrat erteilte im Rahmen einer Aussprache Ende 2007 der bereits bestehenden interdirektionalen Arbeitsgruppe den Auftrag zur Erstellung eines Konzepts. Nach verschiede-nen Vorabklärungen startete die Arbeitsgruppe in neuer Zusammensetzung Ende 2008 mit den Konzeptarbeiten. Begleitet wurde die Arbeitsgruppe durch einen ebenfalls interdirektional zusammengesetzten Steuerungsausschuss.

Diese interdirektionale Projektorganisation legt mit vorliegendem Beschluss ihren Bericht vor. Die Forderungen der Motionen Blaser und Sommer wurden bei der Erarbeitung des Berichts berücksichtigt und können im nächsten Jahresbericht dem Grossen Rat als erfüllt zur Abschreibung beantragt werden.

Der Bericht "Jugend und Gewalt" gliedert sich in sieben Teile.

Der erste Teil definiert die Grundbegriffe: "Jugend" und "Gewalt".

Im zweiten Teil wird die Problematik der Statistiken thematisiert, da immer wieder aufgrund statistischer Zahlen eine massive Zunahme der Gewalt im Jugendbereich behauptet wird.

Im dritten Teil geht der Bericht auf sozialwissenschaftlich geklärte Handlungsmöglichkeiten gegen Gewalt im Jugendbereich ein.

Im vierten Teil fasst der Bericht zusammen, welche strukturellen Faktoren man heute als risikoreichen Kontext für das Entstehen von Gewaltverhalten erkannt hat.

Der fünfte Teil behandelt die Massnahmen, die man unter dem Begriff Repression zusammenfassen kann.

Nachdem der Bericht Grundlagen für ein zeitgemässes, wirksames Handeln geklärt hat, zieht er im sechsten und siebten Teil ein Fazit für den Kanton Bern und definiert eine Gesamtstrategie.

Dabei handelt es sich um folgende Herausforderung:

Die Dunkelfeldforschung erkennt vier Zielgruppen von Kindern und Jugendlichen, die sich hinsichtlich ihres (Gewalt-) Verhaltens unterscheiden:

- Eine erste Gruppe - die Hälfte aller Jugendlichen - zeigt nie ein Gewaltverhalten.

- Eine weitere Gruppe von etwa einem Viertel weist im Verlauf ihrer Kindheit/Jugend zeitweise ein leichtes Störungsverhalten auf. Doch die Grenzüberschreitungen sind leicht und verschwinden wieder. Durch angemessene Reaktionen bzw. Sanktionen werden diese kurzfristigen Störungen aufgehoben.

- Eine dritte Gruppe von etwa 15 - 20% der Jugendlichen zeigt ein schweres Störungsverhalten. Sie begeht Delikte. Hier muss die Umwelt stärker reagieren und intervenieren. Bei diesen Jugendlichen lässt sich aber beobachten, dass sie irgendwann doch "den Rank finden" und im Erwachsenenalter ihren Platz in der Gesellschaft gefunden haben. Bei diesen Jugendlichen ist aber eine intensive Begleitung durch Institutionen und Behörden nötig. Auch ihre Familien benötigen Hilfestellung.

- Eine kleine Gruppe von 3-6% der Jugendlichen zeigt ein massives Störungsverhalten. Diese Jugendlichen und ihre Familien beschäftigen die zuständigen Institutionen, die Vormundschaftsbehörden und die Jugendrechtspflege. Ein Teil dieser Jugendlichen zeigt auch im Erwachsenenalter ein fortgesetztes Störungsverhalten.

In der Strategie kommt der Bericht zu nachfolgendem Schluss: Eine ganzheitliche Strategie muss auf diese Herausforderung ausgerichtet sein. Entsprechend den vier kontinuierlich in einander übergehenden Zielgruppen entwickelt die "Berner Kompassstrategie" vier Teilstrategien. Kompassstrategie heisst sie, weil sie auf vier Handlungsrichtungen verweist. Sie zeigt, wie die Jugend differenziert auf einen vernünftigen Lebensweg geführt werden kann.

Der Kompass fördert ein Handeln, das "entschieden, koordiniert, nachhaltig - und insgesamt optimistisch!" ist. Die vier Teilstrategien ergänzen sich und sind kombinierbar.

Jede bildet die sinnvolle Basis für die nächste Teilstrategie. Den vier Teilstrategien lassen sich spezielle Massnahmen zuordnen:

- Ressourcen aktiv, früh und umfassend aufbauen

- Zeitnahe, rasche Intervention bei Störungen, sofortige Beratungs- und Begleitungsangebote durch Institutionen mit genügend Kapazität

- Verbindliches Case Management bzw. enge, koordinierte Fallführung

- Starke Repression - gezielter Umgang mit der kleinen Gruppe intensiver Gewalttäter

Aus dieser strategischen Perspektive beurteilt der Bericht die Massnahmen, die im Kanton auf kantonaler, kommunaler und privater Ebene bestehen, bezüglich ihrer Kompatibilität mit der Strategie, in Bezug auf ihre Vollständigkeit und ihr Entwicklungspotenzial. Die bestehende Massnahmenlandschaft soll auf ein nachhaltiges Fundament gestellt werden. Der Bericht legt grossen Wert darauf, dass die künftige Entwicklung interdirektional gesteuert wird. Der interdirektionale Ansatz hat sich bei der Erarbeitung des Berichts durch das Projektteam und die Steuerungsgruppe aus vier Direktionen als zentrales Erfolgselement erwiesen. Der Bericht schliesst mit dem Formulieren von Leitlinien, die es erlauben, das Handeln des Kantons vor der Öffentlichkeit plausibel zu machen.

Der Bericht zeigt aber in seiner Gesamtheit auch deutlich auf, dass im Kanton Bern bereits einiges zur Verhinderung von Jugendgewalt unternommen wird. Aufbauend auf der Strategie und den Leitlinien sollen in einem nächsten Schritt die unter Kapitel 5.1 aufgeführten Massnahmen im Detail geprüft und ihre Kostenfolgen aufgezeigt werden. 2. Beschreibung des Geschäfts

2.1 Ausgangslage

2007 hat der Grosse Rat einstimmig die Motion Blaser (M150/2007) zum Thema "Jugendgewalt" überwiesen. Diese fordert vom Regierungsrat ein "umfassendes Konzept", das auf einer Gesamtstrategie aufbaut. In der Drogenpolitik wurde in den 80er Jahren eine Konzeption, die "auf den Säulen Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression aufbaut", politisch mehrheitsfähig. Gemäss Motion Blaser soll auch im Thema "Jugendgewalt" eine Strategie entwickelt werden, die den Erfolg nicht durch eine einzige Massnahmenart sucht. Vielmehr sollen verschiedene Handlungsmöglichkeiten kombiniert werden. Die vom Regierungsrat erarbeitete Strategie soll für den Kanton Bern das Fundament legen, um "gegen Jugendgewalt mit einem Massnahmenkatalog anzutreten". Im Umfeld des Themas "Jugend und Gewalt" wurden noch weitere Motionen eingereicht. Sie beleuchten Aspekte der Thematik: Gewalt und Schule, Gewalt und Videospiele bzw. Gewaltdarstellungen in den Medien sowie Gewalt und Suchtmittel. Darunter befindet sich die Motion der EVP (M 139/2007, Sommer, Melchnau) welche "Gewaltprävention und Krisenkonzepte für Berner Schulen" fordert. Die Motion kann aus folgenden Gründen abgeschrieben werden: Im Kanton Bern wurde 2009 der Leitfaden KrisenKompass des Schulverlags blmv AG publiziert. Dieser Kompass wurde allen Schulleitungen und Schulkommissionen im Kanton Bern durch die Schulinspektorate vorgestellt. Die Schulen sind nun daran, wo nötig Krisenkonzepte zu erarbeiten. Die Schulinspektorate werden diese Arbeiten im Rahmen des Controllings überprüfen.

Bereits vor der Behandlung der Motion Blaser im Grossen Rat befasste sich eine interdirektio-nale Arbeitsgruppe (GEF, POM, JGK und ERZ) mit dem Thema "Jugend und Gewalt". Diese stellte in einem Aussprachepapier an den Regierungsrat fest, dass im Kanton Bern bezüglich der Herausforderung von Gewalt im Jugendbereich bereits viel geschieht. Um eine bessere Wirkung zu erzielen, brauche es aber eine gezielte Entwicklung der Massnahmen: Insbesondere sei eine Koordination der Akteure bzw. Vernetzung der Massnahmen nötig.

Unter Federführung der Erziehungsdirektion wurde im Herbst 2008 einer grösseren klassischen interdirektionalen Projektorganisation (GEF, POM, JGK und ERZ) der Auftrag zur Erar-beitung eines Konzeptes erteilt. Der Steuerungsausschuss setzte darauf hin ein 8-köpfiges Projektteam ein. In ihm waren Fachpersonen vertreten, die in der Verwaltung des Kantons bzw. der Stadt Bern im Thema "Jugend und Gewalt" spezielle Expertise haben. Das Projekt-team hat zwischen November 2008 und Herbst 2009 den Auftrag im Licht des aktuellen Expertenwissens bearbeitet und seine Arbeit mit einem Bericht abgeschlossen. Der Bericht wurde vom Projektteam einstimmig verabschiedet und vom Steuerungsausschuss für den Mitbericht freigegeben.

Der Bericht klärt die Hintergründe und komplexen Detailaspekte der Thematik; er fasst Ergeb-nisse der neusten Forschung zusammen und schlägt eine Gesamtstrategie vor, die der Herausforderung angemessen ist. Diese besteht - ganz im Sinn der Motion Blaser - aus einer Kombination von sich ergänzenden Teilstrategien. Der Bericht stellt die bisher im Kanton Bern entwickelten Massnahmen in den Kontext seiner Strategie und macht Vorschläge zur Entwicklung und für ein koordiniertes Vorgehens. Er gibt im Anhang eine beispielhafte Übersicht über die Massnahmen und formuliert zuhanden der Öffentlichkeit Leitlinien, die der Kanton Bern seinem Handeln angesichts der Herausforderungen zugrunde legen kann.

2.2 Das Thema im heutigen Umfeld Schutzaufbauende WIDERSTANDSFAKTOREN

Im vergangenen Jahrzehnt hat sich die Wissensbasis im Themenfeld "Jugend und Gewalt" verbreitert. Viele Forschungsarbeiten befassen sich mit der Wirkung von Massnahmen, welche der Gewalt vorbeugen. Auch das statistische Wissen wurde verbessert. Mehrere repräsentative Studien zum sogenannten Dunkelfeld von Jugenddelinquenz geben Auskunft über tatsächliche Verhältnisse im Bereich der Gewalt von Jugendlichen: Wer sind die Täter, wer die Opfer? Wie gross ist die Zahl aller Delikte? Wie sehen die Delikte aus? Was für Risikofaktoren und Hintergründe begünstigen Delinquenz? Welches sind wesentliche Schutzfaktoren?

Im Mai 2009 hat der Bundesrat zudem einen Bericht mit Empfehlungen zum Thema vorgelegt. Dieser stützte sich auf Vorarbeiten einer Expertengruppe rund um Manuel Eisner, einem der führenden wissenschaftlichen Experten zum Thema. Im Herbst 2009 wurde dann eine Dunkel-feldstudie aus dem Kanton St. Gallen veröffentlicht. Sie verantwortet der international anerkannte Experte für Dunkelfelderhebungen, der Kriminologe Martin Killias. Die Studie vermittelt ein differenziertes Bild darüber, wie 16-Jährige Gewalt erleben oder eben auch ausüben - als Opfer und Täter. Diese Studie zeigt wichtige soziale Zusammenhänge und Hintergründe auf.

Das Projektteam hat diese Forschungsresultate und Untersuchungen diskutiert und die Ergebnisse im Bericht aufgenommen. Zudem hat es umfassend erhoben, was im Kanton Bern an Massnahmen vorhanden ist. Der Kanton, Gemeinden sowie private Akteure aus dem gemeinnützigen Bereich haben hier die Herausforderung seit längerer Zeit erkannt. Sie bieten viele Massnahmen an und verbessern diese aufgrund von Erfahrungen auch laufend.


2.3 Die Begriffe im Umfeld von Jugend und Gewalt

Der Bericht stellt fest, dass der Begriff "Jugendgewalt" verzerrend wirkt. Die Mehrzahl der Gewalttaten geht nämlich von Erwachsenen aus; es redet deswegen aber niemand von "Erwachsenengewalt" als einer gesellschaftlichen Gefahr. Um eine differenzierte Betrachtung zu unterstützen, verwendet der Bericht umschreibende Begriffe wie etwa "Jugend und Gewalt". Es geht hier nicht um ein gesamtes Erscheinungsbild, sondern um äusserst unterschiedliche Phänomene, Problemlagen und Herausforderungen.

Erschwerend kommt hinzu, dass bereits die Teilbegriffe unklar sind: Der Gesetzgeber braucht den Begriff "Jugend" für eine Altersgruppe, deren Obergrenze je nach Gesetz bei 17, 18, 24, 25 oder gar 30 Jahren liegt. Daraus folgt: Unter dem Begriff "Jugend" gerät also eine altersmässig äusserst unterschiedliche Zielgruppe ins Blickfeld. Angesichts dieser unscharfen Gruppe kann "Jugendgewalt" kein abgegrenztes Phänomen darstellen.

Fest steht, dass sich in den letzten Jahrzehnten der Kontext verändert hat, in dem Jugendliche aufwachsen. Ein Strategiepapier des Bundesrates zur Kinder- und Jugendpolitik beschreibt diese tiefgreifenden Veränderungen. Die Jugendlichen sind angesichts des gesellschaftlichen Wandels mit grossen, neuartigen Herausforderungen konfrontiert. DieOrientierungsysteme für junge Menschen sind nicht mehr so klar wie früher. Sie erleben zudem eine Neuausrichtung der Bildung auf völlig veränderte Berufswelten und unbekannte Karriereentwicklungen. Hier bieten die Lebensentwürfe der Eltergeneration keine fixe Orientierungshilfe mehr. Zudem hat sich der Zeitraum des Jugendalters nach oben ausgedehnt:

- Jugendliche sind länger abhängig

- und gleichzeitig schon seit der Kindheit mit einer gegenüber früher viel grösseren Autonomie konfrontiert.

- Ihre Entscheidungskompetenz hat sich vermehrt. Die Medien und deren Entwicklung spielen hier eine stark dynamisierende Rolle: Häufig sind die Jugendlichen z.B. im Bereich der Medienentwicklung die besseren Experten als ihre Eltern.

Die Elterngeneration kann in vielen Bereichen kein voraus laufendes Wissen mehr vermitteln. Schliesslich gibt es immer mehr unterschiedliche Familienformen und Lebensmodelle, damit die Lebenssituationen und Konfliktmöglichkeiten. Schliesslich nimmt auch die Durchmischung der Kulturen vor Ort durch Migrationsströme im Rahmen der Globalisierung zu. Unterschiedliche Kulturen und Normensysteme geraten manchmal in Konflikt.

Mit dem Begriff "Gewalt" werden Begriffe verknüpft, die in ihrer Bedeutung schillern. Z.B. Aggressivität (Angriffswillen, positiv im Sport, negativ in fremdschädigenden Zusammenhängen), Kriminalität (kriminelle Handlung von Jugendlichen gemäss den Paragraphen des Schweizer Strafgesetzbuches; diese sind nicht immer mit Gewalt verbunden.) Zudem zählt man im Zusammenhang mit Gewalt unter Jugendlichen auch Verhaltensweisen wie Mobbying auf, die nicht mit Delikten verbunden sind, also keine Straftatbestände darstellen. Oft wird auch einfach ungebührliches oder unanständiges Verhalten von Jugendlichen als gewalttätig bezeichnet. Dabei geht es um Verunreinigungen (Littering, Graffitimalen), um Lärm, auffälliges Verhalten, öffentlichen Alkoholkonsum, Anpöbeleien. Wo Anstands- und Benimmregeln nicht mehr klar sind, nimmt die Berechenbarkeit von Situationen ab. Das erleben viele Erwachsene als starke Verunsicherung. Hier sind aber meist keine Delikte im Spiel. Zudem kommen solche unanständige Verhaltensweisen auch bei Erwachsenen vor, an der Jugend fallen sie aber besonders auf.

Welche Delikte sind gemeint, wenn von Gewalt im Jugendbereich die Rede ist?

Im Jahr 2008 hat eine Untersuchung Jugendliche aus dem Kanton St. Gallen danach befragt, inwiefern sie bereits Opfer von Gewalt geworden sind, beziehungsweise ob sie selber schon Täter von Delikten waren. Die Liste der dort abgefragten Delikte gibt ein gutes Bild darüber, welche Delikte die Gesellschaft und Medien mit Gewalt im Jugendbereich verbindet:

Welche Delikte sind gemeint, wenn von Gewalt im Jugendbereich die Rede ist? Im Jahr 2008 hat eine Untersuchung Jugendliche aus dem Kanton St. Gallen danach befragt, inwiefern sie bereits Opfer von Gewalt geworden sind, beziehungsweise ob sie selber schon Täter von Delikten waren. Die Liste der dort abgefragten Delikte gibt ein gutes Bild darüber, welche Delikte die Gesellschaft und Medien mit Gewalt im Jugendbereich verbindet:

2.4 Das Erscheinungsbild von Gewalt (Dunkelfeld- und Hellfeldproblematik)

Im Zusammenhang mit Gewalt im Jugendbereich werden als Beweis Kriminalstatistiken angeführt, um eine Zunahme von Delikten zu belegen. Diese Statistiken befassen sich alle mit den angezeigten Delikten, die von Polizei und Justiz erfasst sind. Da sie bekannt sind, nennt man sie das Hellfeld der Kriminalität. Es wäre aber wichtig zu wissen, wie hoch denn das gesamte Ausmass der Straftaten ist. Dazu muss man auch die Delikte kennen, die im Dunkeln bleiben, weil keine Anzeige erfolgt ist. Diesen Bereich nennt man das Dunkelfeld.

Erst wenn die Veränderungsdynamik von Straftaten insgesamt bekannt ist, können wir sagen, ob Delikte zu- oder abnehmen, ob sie schwerer werden und wo es Verschiebungen gibt - etwa hin zu neuen Deliktarten. Aus Veränderungen im Hellfeld darf man nicht auf die Zunahme der Delikte schliessen. Ein Anstieg kann auch durch höhere Anzeigebereitschaft begründet sein.

Seit 1999 gibt es in der Schweiz repräsentative Dunkelfeldstudien zur Gewalt im Jugendbereich. Sie zeichnen alle ein Bild, das übereinstimmt. Zwei Untersuchungen stammen von Manuel Eisner. Er hat 1999 und 2007 Schülerinnen und Schülern in der Stadt Zürich befragt. Hieraus kann man nun Entwicklungstendenzen ableiten. Die neuste Untersuchung stammt aus dem Kanton St. Gallen. Dort hat Martin Killias 2008 alle 16-jährigen Jugendlichen an den Schulen des Flächenkantons befragt. Aus Dunkelfeldstudien lässt sich nicht bloss ein Bild der Delinquenz zeichnen - bezüglich der Täter- und Opfer-Erfahrung. Da von den Befragten soziodemografische Daten abgefragt werden, geben diese Studien wertvolle Hinweise auf Risikofaktoren - und damit für erfolgreiche Präventionsziele und lohnende Interventionsfelder.

Aus allen Untersuchungen lässt sich ein zusammenfassendes Bild der Gewalt im Jugendbereich zeichnen. Die Zahlen zu dieser Pyramide sind auch im Bericht des Bundesrates fest-gehalten:

Gegenüber diesen verschiedenen Zielgruppen, die in ihrem jugendlichen (Nicht-) Gewaltverhalten unterschiedliche Muster zeigen, braucht es unterschiedliche Strategien, die präventive und repressive Massnahmen richtig mischen.

- Eine erste Gruppe - die Hälfte der Jugendlichen - zeigt nie ein Gewaltverhalten.

- Eine weitere Gruppe von etwa einem Viertel weist im Verlauf ihrer Kindheit/Jugend zeitweise ein leichtes Störungsverhalten auf. Doch die Grenzüberschreitungen sind leicht und verschwinden wieder. Durch angemessene Reaktionen bzw. Sanktionen werden diese kurzfristigen Störungen aufgehoben. Hier ist ein rasches und ausreichendes Angebot an Beratung und Unterstützung für die Beteiligten sehr wichtig.

- Eine dritte Gruppe von etwa 15 - 20% der Jugendlichen zeigt ein schweres Störungsverhalten. Sie begeht Delikte, die massiv sind. Hier muss die Umwelt stärker reagieren und intervenieren. Bei diesen Jugendlichen lässt sich aber beobachten, dass sie irgendwann doch "den Rank finden" und im Erwachsenenalter ihren Platz in der Gesellschaft gefunden haben. Bei diesen Jugendlichen ist aber eine intensive Begleitung durch Institutionen und Behörden nötig. Auch ihre Familien benötigen Hilfestellung. Hier ist eine enge Fall-führung oft sinnvoll.

- Eine kleine Gruppe von 3-6% der Jugendlichen zeigt massives Störungsverhalten. Diese Jugendlichen und ihre Familien beschäftigen die zuständigen Institutionen, die Vormundschaftsbehörden und die Jugendrechtspflege. Ein Teil dieser Jugendlichen zeigt auch im Erwachsenenalter weiter ein Störungsverhalten. Hier sind starke repressive Reaktionsweisen oft die einzige Form der Reaktion, auch um Opfer zu schützen.

Präventive Massnahmen gegen Gewalt sind lohnend: Jeder Jugendliche, der sich in die Gesellschaft integriert und sie nicht durch Störungsverhalten nachhaltig belastet, bedeutet für ihn und die Umwelt gesteigerte Lebensqualität. Zudem sind die sozialen Folgekosten hoch, nicht zu sprechen vom Leid potenzieller Opfer. Das Thema "Jugend und Gewalt" darf man insgesamt nicht dramatisieren, sondern muss es differenziert angehen.

Repression muss je nach Situation mit anderen Massnahmen kombiniert angedroht oder eingesetzt werden.

Die im Bericht analysierte Herausforderung ist für die Strategie formgebend. Auf diese Realität hin muss der in der Motion Blaser geforderte ganzheitlichen Massnahmenkataloge ausgerichtet sein.

Gewalt hat einen Bezug zum Lebenslauf: Man muss sie im Lebenszyklus betrachten. Sie steigt an und nimmt auch wieder ab. Im Bericht des Bundesrates liest man: "Viele Jugendliche, die gewalttätige Verhaltensweisen annehmen, tun dies nur während kurzer Zeit. Das Jugendalter ist in einem gewissen Sinne von Natur aus gewalttätig und verschiedenen individuellen und zwischenmenschlichen Faktoren mit hohem Konfliktpotenzial ausgesetzt. Dies hat vor allem mit der Pubertät und der Erweiterung des Umfelds von der Familie auf Gleichaltrige und den öffentlichen Raum zu tun. Die Neigung zu körperlichen Angriffen nimmt normalerweise mit zunehmendem Alter ab."

Gewaltprävention muss diesen Bezug zum Lebenslauf aufnehmen. Sie ist in eine allgemeine Strategie der Gesundheitsförderung/Prävention von Entwicklungsstörungen einzubetten. Die Forschung hat Faktoren identifiziert, die mit einem erhöhten Risiko von Gewaltausübung ein-hergehen. Präventionsansätze sollten auf Risikofaktoren abzielen bzw. Schutzfaktoren aufbauen. Gewalt im Jugendalter ist Teil eines Verhaltenssyndroms, zu dem auch verschiedene andere problematische Verhaltensweisen zählen (z.B. frühes Suchtverhalten, Essstörungen, Depressionen usw.). Ein grosser Teil der Risikofaktoren für Gewalt ist auch für andere Manifestationsformen mangelnder psychosozialer Gesundheit verantwortlich. Eine Prävention von Jugendgewalt muss in umfassende Strategien zur Prävention dieser externalisierenden Verhaltensprobleme eingebettet werden.

Gewalt hat auch einen Geschlechtsaspekt: Gewalt von männlichen Jugendlichen unterschei-det sich meist von derjenigen von weiblichen Jugendlichen. Diese wenden oft eher indirekte Formen (Anstiften, Mobbying) oder selbstschädigende Gewaltformen an.

Gewalt hat auch einen Zusammenhang mit erlebter häuslicher Gewalt. Sie favorisiert insbesondere gewalttätiges Verhalten bei jungen Männern. Das Kind lernt durch Nachahmung; es ist wahrscheinlich, dass es das Vorgehen bei der Lösung von zwischenmenschlichen Konflikten bei den Eltern abschaut. Andauernder Streit und Konflikt zwischen den Betreuungsperso-nen bis hin zu Partnergewalt bilden einen wesentlichen Risikofaktor.

Alkohol kann eine stark gewaltfördernde Wirkung haben. Er wirkt dann - wie andere, ähnlich stimulierend wirkende Substanzen - als Katalysator für "sinnlose" Gewaltakte, fördert die Gewalt, die von Gruppen ausgeht und wirkt v.a. abends und in der Nacht als wichtiger Risikofaktor. Jugendliche suchen im Alkohol Enthemmung, Wohlsein - werden dann aber davon überrascht, dass diese Enthemmung und das gesuchte Eingebettetsein in ein Wirgefühl der Gruppe kontraproduktiv wirken.

Beim Thema "Medienkonsum und Gewalt Jugendlicher" zeigt sich, dass informierte und sensibilisierte Eltern, deren Fähigkeit zum Gespräch mit ihren Kindern sowie die Förderung der Medienkompetenz bei den Jugendlichen (und Eltern) zentrale Schutzfaktoren gegen die sogenannte "Abwärtsspirale" darstellen. Mit diesem Begriff bezeichnen Fachleute die Wirkung Gewalt verherrlichender Medieninhalte bei Jugendlichen, die bereits andere persönliche Risikofaktoren mitbringen. Demnach macht der Konsum von Gewaltdarstellungen in Medien eine Person nicht gewalttätig, wenn sie dazu nicht mehrere andere Prädispositionen mitbringt. Dieses Urteil findet sich auch im Bericht des Bundesrates. Es basiert auf einer Expertise von Olivier Steiner.

2.5 Gewaltprävention

Damit ein Mensch gewalttätig wird, braucht es gemäss verschiedenen Studien unterschiedliche Einflussfaktoren:

- Gesellschaftliche Rahmenbedingungen: Sie sind struktureller Art und können politisch beeinflusst werden. Das Individuum kann sie nicht direkt verändern.

- Risikofaktoren sind Merkmale/Prozesse bei oder im nahen Umfeld einer Person, welche die Wahrscheinlichkeit eines negativen Verhaltens bzw. einer negativen Entwicklung erhöhen und die oft als Ursache für Gewaltverhalten gelten können.

- Schutzfaktoren sind die positiven Einflüsse für eine Entwicklung oder schwächen die negative Wirkung von Risikofaktoren. Sie bilden die Ressource für ein Gegengewicht. Wegen der Schutzfaktoren werden nicht alle Personen, die den Risikofaktoren ausgesetzt sind, gewalttätig. Je mehr Schutzfaktoren aufgebaut sind, desto grösser ist auch bei Vor-liegen mehrerer Risikofaktoren die Chance, dass diese nicht zu Störungs- bzw. Gewaltverhalten führen.

- Situative Faktoren bieten eine bessere oder schlechtere Tatgelegenheit. Sie setzen Schutzfaktoren zeitweilig ausser Kraft bzw. erhöhen die Chance, dass Risikofaktoren ein negatives Verhalten in Gang setzen (z.B. Alkohol, eine unüberwachte, Gewalt symbolisierende Umgebung usw.)

Alle diese Faktoren beeinflussen das akute Gewaltverhalten beim Jugendlichen oder lösen es aus. Es ist bekannt, dass diejenigen Risikofaktoren, die für Gewaltverhalten verantwortlich gemacht werden, auch andere gesundheitliche Störung bewirken. Gewisse Massnahmen der Gesundheitsförderung bzw. Prävention sind deshalb in ihrer Wirkung vielseitig: Sie bilden eine Ressource für den Aufbau von Schutzfaktoren gegenüber vielen Verhaltensstörungen. Sie beeinflussen nicht bloss den Bereich "Gewaltverhalten" positiv, sondern beugen auch anderen Entwicklungsstörungen vor, etwa psychische Störungen, Essstörungen, Suchtverhalten usw.. Es ist sinnvoll, in Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen zu investieren.

2.6 Massnahmenbündel - von Gesundheitsförderung/Prävention bis zur Repression

Einen besonderen Stellenwert bei Gewaltverhalten und anderen Entwicklungsstörungen bei Jugendlichen haben die strukturelle Bedingungen, unter denen sie aufwachsen: Arbeitslosigkeit, starke Einkommensunterschiede, Probleme mit dem aufenthaltsrechtlichen Status, schlechte Perspektive bezüglich der Lehrstelle und Berufsausbildung, andere Formen der Chancenungleichheit, Benachteiligung aufgrund von kulturellen Vorurteilen gegenüber einer Rasse oder einem Volk oder qualitativ ungenügend funktionierender Kindesschutz.

Negative strukturelle Grundbedingungen sind starke Risikofaktoren für Gewaltverhalten, auch im Jugendbereich. In der St. Galler Dunkelfeldstudie wird dies statistisch sichtbar: Wer in einer "problematischen" Nachbarschaft (Kriminalität, Drogen, Schlägereien, Schmierereien, leere Gebäude)" lebt, verursacht fast dreimal mehr Körperverletzungen und begeht mehr Delikte. Eine Veränderung von strukturellen Bedingungen wirkt präventiv. Da es hier um politische Veränderungsprozesse geht, wo Mehrheiten entstehen müssen, sind diese nicht so leicht beeinflussbar.

Folgende Massnahmenarten stehen dem Kanton - auch in Kombination - zur Verfügung:

•Gesundheitsförderung/Prävention: Der Kanton Bern investiert viel in gesundheitsfördernde Massnahmen und Prävention bei Kinder und Jugendlichen. Gesundheitsförderung und Prävention sind zwei Seiten derselben Medaille.

Der präventive Ansatz ist auf negative Verhaltensweisen ausgerichtet. Präventionsaktivitäten wollen Störungen der Gesundheit bzw. der Persönlichkeitsentwicklung - auch Gewaltverhalten - mit vorbeugenden Massnahmen vermeiden.

Gesundheitsförderung verfolgt - ergänzend zu der auf bestimmte Störphänomene ausgerichteten Prävention - eine grundsätzlich aufbauende Zielsetzung. Sie schafft so eine ressourcenreiche Situation, bietet "Nahrung" für die Entwicklung von Gesundheit und für Verhaltensweisen, die der Gesundheit förderlich sind. Sie will also positiv den Aufbau von Gesundheit bewirken. Zugrunde liegt der ganzheitliche Gesundheitsbegriff der WHO: Gesundheit als " Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens - und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen." Gesundheitsförderung meint auch Investitionen in gesunde Familien und in Schulkultur.

•Früherkennung und Frühintervention: Als Schnittstelle zwischen Prävention und Beratung/Therapie hat in den letzten Jahren die Früherkennung und Frühintervention stark an Bedeutung gewonnen. In den grossen Rahmen der vorbeugenden Massnahmen gehört dasfrühzeitige Erkennen von Störungen bzw. störungsnahes Verhalten ("Früherkennung"). Ziel ist dabei, Personen mit erhöhtem Gefährdungspotenzial bzw. ihr nahes Umfeld (Familie, Lehrer, Arbeitgeber usw.) so früh wie möglich mit Hilfestellungen zu versehen ("Frühintervention").

•Beratung/Therapie: Die erwähnten Personen werden effizient und rasch mit begleitenden, beratenden und therapeutisch intervenierenden Institutionen in Kontakt gebracht.

•Schadensminderung: Beim Umgang mit Suchtmittelproblemen hat man erkannt, dass Personen, die sich längere Zeit in einer Drogenahängigkeit befinden, z.B. aufgrund der Kriminalisierung des Drogenkonsums oder wegen mit der Abhängigkeit verbundenen Verhaltensweisen (schlechte Ernährung, Diebstahl, Beschaffungsprostitution usw.) sekundäre Schädigungen erleiden. Mit diesen sekundären Schädigungen befasst sich die Massnahmart der "harm reduction" bzw. Schadensminderung. In der Drogenpolitik lautete der Gegensatz "Repression" oder "Schadensminderung". Im Bereich der Gewalt spielt Schadensminderung nicht dieselbe wichtige Rolle wie im Drogenbereich.

•Repression: Diese vorbeugenden und intervenierenden Massnahmenarten müssen durch Repression ergänzt werden. Bei der Repression wird unerwünschtes Störungsverhalten - in unserem Fall Gewalt - durch behördliche Verfügungen und gerichtlich legitimierte Massnahmen (Polizei, Justiz, Vormundschaftsbehörden) verhindert, unter-bunden und verfolgt. Durch Repression wird die Freiwilligkeit der Mitwirkung an Massnahmen bei Betroffenen (Jugendlichen, Eltern) durch behördliche und gerichtliche Zwangsmittel ersetzt. Oft bewirkt auch das Androhen einer repressiven Massnahme ein freiwilliges Mitwirken. Ein solches ist bei Entwicklungsprozessen nämlich anzustreben. Zu den repressiven Mitteln im Bereich Gewalt und Jugend gehören die Massnahmen des vormundschaftlichen Kindesschutzes bis hin zum Obhutsentzug, dann die Massnahmen der Jugendstrafrechtspflege und viele polizeiliche Massnahmen. Die Polizei im Kanton Bern wendet aber auch viele präventive Massnahmen an. Repression darf nicht abgetrennt von den anderen Massnahmenarten gesehen werden. Druck zur Mitwirkung stellt also ein repressives Element dar, kann mittelfristig aber ein wenn auch nicht freiwilliges, doch zustimmendes und williges Mitwirken auslösen. Repression hat eine generalpräventive Wirkung: Potentielle Täter müssen mit Sanktionen rechnen und werden im günstigen Fall abgeschreckt. Das Umfeld weiss, dass ein Verhalten verfolgt wird - und ruft die Polizei.

Die folgende Darstellung gibt eine grafische Übersicht über die erwähnten Massnahmenarten, die oft - je nach Zielgruppe bzw. individueller Situation - kombiniert werden müssen. Ergän-zend ist in dieser Übersicht eine weitere Handlungskategorie aufgeführt. Sie unterscheidet sich von den individuell anwendbaren Massnahmen: Das politische Handeln durch "strukturelle Massnahmen". Es verändern Rahmenbedingungen und damit verbundene Risikofaktoren.

Die Motion Blaser fordert eine Kombination von Vorgehensweisen im Bereich Gewalt und Jugend. Die oben argestellte Matrix zeigt, welche Massnahmenarten möglich sind. Keine der aufgeführten Teilstrategien stellt die Lösung für alle Probleme dar.

2.7 Vier Settings für Prävention: Familie, Schule, Gleichaltrige/Freizeit, Nachbarschaft

Um die Kinder und Jugendliche bzw. ihre Eltern zu erreichen, muss man die Institutionen nutzen, in denen sie leben. Dabei drängt sich auf, dem Verlauf der Entwicklung zu folgen. Die ersten Jahre leben Kinder vor allem in der Familie, danach wird die Schule ein stark gewichteter Lebensraum. Ab dem 12. Altersjahr verbringen Jugendliche immer mehr Freizeit in der "Peer Group" der Gleichaltrigen. Deren Einfluss nimmt nun stetig zu, derjenige der Familie wird schwächer. Eine stark prägende Umwelt für Kinder und Jugendliche bilden schliesslich die Nachbarschaft bzw. das Quartier. Hier kommen sie mit typischen Personen, grundsätzlichen Werthaltungen und spezifischen sozialen Milieus in Kontakt.

2.8 Die Berner Präventionsmatrix

Stellt man nun alle bereits erwähnten Massnahmenarten auf einer horizontalen Achse dar und auf die vier zielführenden Settings auf der vertikalen Achse, erhält man eine zweidimensionale Matrix. In diese kann man bestehende oder geplante Massnahmen gegen Gewalt im Jugendbereich nach ihren Zielsetzungen eintragen. Kombinierte Massnahmen können sich über verschiedene Felder erstrecken. Man kann in der Matrix auch Vernetzungen und Synergien darstellen. So wird es möglich, in den Massnahmen ein ganzheitliches Handeln sichtbar zu machen. Auf der Grundlage dieser Matrix kann ein Informationssystem über Massnahmen erstellt werden. Man erfasst zur Massnahme alle Zielkategorien und das Setting, in denen sie angewendet wird. So wird eine Übersicht über bzw. ihre Kombination möglich.

Auf dieser Basis könnte eine Datenbank und ein Informationssystem zuhanden der Politik bzw. der Öffentlichkeit aufgebaut werden. Ein Beispiel für ein webgestütztes Informationssystem dieser Art stellt die Berner Website "www.profinfo.ch" dar. Sie enthält Massnahmen der Gesundheitsförderung/Prävention ausschliesslich für die Zielgruppen des Settings "Schule".

Der Bericht des Projektteams fasst in einem Anhang die gegenwärtig im Kanton Bern laufenden Massnahmen im Sinne einer Momentaufnahme einigermassen repräsentativ zusammen.

3. Fazit des Berichtes

- Hauptfazit 1: Das Thema Gewalt im Jugendbereich sollte als Sachthema ernst genommen und ihm müssen politisch getragene Strategien entgegengesetzt werden. Das Thema darf nicht zur Projektionswand für andere Probleme gemacht werden, die nicht nur die Jugend hat.

- Hauptfazit 2: Die Jugend braucht Ressourcen, um im heutigen gesellschaftlichen Umfeld mit seiner Entwicklungsdynamik zu bestehen. Die Gesellschaft soll den Jugendlichen das mitgeben, was sie befähigt, ihr Leben gut zu bestehen. Das sollen die Erwachsenen zudem nicht selbstlos tun. Diese Jugend wird einmal Verantwortung für die Gesellschaft übernehmen - und für die jetzt Verantwortlichen sorgen müssen.

- Hauptfazit 3: Nicht in wilden, hektischen Aktionismus verfallen und laufend etwas Anderes als das Bessere hinstellen und allein diese neue Massnahme fordern. Was er bereits heute macht, soll der Kanton Bern entschieden, koordiniert, nachhaltig - und insgesamt optimistisch tun. Und er soll es gezielt weiter entwickeln.

- Hauptfazit 4: Es ist nicht zielführend vorzugeben, die vorliegende Strategie bewirke Wunder und alle Probleme seien beseitigt. Fest steht einzig: Auch im Bereich Jugend und Gewalt müssen alle Mittel ergänzend eingesetzt werden - Gesundheitsförderung/Prävention, Früherkennung/-intervention, Beratung/Therapie, Schadensminderung und Repression. Wer in einem dieser Massnahmen bzw. Teilstrategien die Lösung Heil sucht, wird kaum zum Ziel kommen.

4. Die Kompassstrategie als Antwort auf die Herausforderungen im Bereich Jugendgewalt

Die Dunkelfeldforschung definiert wie bereits erwähnt vier klare Zielgruppen von Kindern und Jugendlichen, die sich hinsichtlich ihres (Gewalt-)Verhaltens unterscheiden.

Die ganzheitliche Strategie kann nun auf diese Herausforderung ausgerichtet werden. Entsprechend den vier kontinuierlich in einander übergehenden Zielgruppen, entwickelt die "Berner Kompassstrategie vier Teilstrategien. ">Kompassstrategie" heisst sie, weil sie auf vier Handlungsrichtungen verweist. Sie zeigt, wie die Jugend differenziert auf einen guten Lebensweg geführt werden kann. Der Kompass zeigt vier sich ergänzende Wege für den zeitgemässen Umgang mit der Herausforderung "Gewalt im Jugendbereich". Die vier Teilstrategien der Kompassstrategie ergänzen sich und sind miteinander kombinierbar. Jede bildet eine sinnvolle Basis für die nächste Teilstrategie. Den vier Teilstrategien lassen sich spezielle Massnahmen zuordnen.

Aus dieser strategischen Perspektive beurteilt der Bericht die Massnahmen, die im Kanton auf kantonaler, kommunaler und privater Ebene bestehen bezüglich ihrer Kompatibilität mit der Strategie in Bezug auf ihre Vollständigkeit und das Entwicklungspotenzial. Der Bericht legt Wert darauf, dass die künftige Entwicklung interdirektional gesteuert und verantwortet wird. Der interdirektionale Ansatz hat sich bei der Erarbeitung des Berichts durch das Projektteam und die Steuerungsgruppe aus vier Direktionen als zentrales Erfolgselement erwiesen. Der Bericht schliesst mit dem Formulieren von Leitlinien, die es erlauben, das Handeln des Kantons der Öffentlichkeit plausibel zu machen.

Die Berner Kompassstrategie gegen Gewalt im Jugendbereich

1. Ressourcen aktiv, früh und umfassend aufbauen:

Familien-, Kinder- und Jugendpolitik, Gesundheitsförderung - Schaffen, Verbessern und Erhalten von kinderfreundlichen Spiel- und Lebensräumen. Unterstützen von ehrenamtlichen Angeboten der Kinder- und Jugendförderung und von Erziehungsverantwortlichen. Grundangebot für Eltern und Kinder zur Stärkung und Förderung einer positiven Entwicklung der Kinder im Frühbereich (Kinder von Geburt bis 5 Jahren) und im Schulalter sicherstellen. Fördern der Sozialkompetenz und Konfliktfähigkeit durch Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit und in der Schule durch eine gesundheitsfördernde Schulgestaltung. Das sind Investitionen mit grossem Effekt. Diese Ressourcen sind für alle nützlich. Sie wirken nicht bloss gegen Gewalt, sondern sind Schutzfaktoren bei sehr vielen möglichen Entwicklungsstörungen.

2. Zeitnahe, rasche Intervention bei Störungen, sofortige Beratungs- und Begleitungsangebote durch Institutionen mit genügend Kapazität:

Es gibt viele Fachpersonen, die Störungen bei Kindern, Jugendlichen und in Familien in einer Frühphase wahrnehmen. Doch sie reagieren nicht oder nur ungenügend. Gerade in einer Frühphase sind die Korrekturmöglichkeiten noch gross, oft noch besteht Kooperationsbereitschaft und es braucht noch keine drastischen Massnahmen. Es ist deshalb sehr wichtig, dass (Fach-) Personen im Umfeld ihre Verantwortung wahrnehmen, wenn sie Störungen beobachten, die einen ernsthaften Hintergrund haben könnten. Sie müssen dazu die Betroffenen bzw. die Eltern und Erziehungsberechtigten ansprechen oder den Kontakt mit speziellen Fachpersonen im Umfeld suchen.

Mit einer sorgfältigen Früherkennung/-intervention und dem Bearbeiten des Falles mit den Betroffenen und den Erziehungsberechtigten könnte manche Störung, die sich später verstärkt, frühzeitig behandelt werden. Es existieren im Kanton Bern auch viele helfende Institutionen. Sie bieten Kurse an, bei ihnen findet man Rat und Unterstützung. Oft sind auch die Institutionen, welche betroffene Personen aufsuchen bzw. denen sie zugewiesen werden mit zu wenig Kapazität ausgestattet. Deshalb erfolgt die Beratung, die fördernde Hilfe oder Therapie nicht intensiv. Es liegt eine grosse Chance bei der frühen Intervention. Sie muss aber rasch und wirksam erfolgen. Deshalb braucht es Institutionen, die bei der Intervention rasch handeln und auf den einzelnen Fall bezogene Angebote machen. (Mediation / Konfliktlösung, Beratung, Coaching, Therapie). Es braucht dabei auch eine Überprüfung der Intervention bzw. der Wirkung. Wo sich zeigt, dass es sich um schwere Fälle handelt, muss ein Fall weiter verfolgt und intensiver behandelt werden.

3. Verbindliches Case Management bzw. enge, koordinierte Fallführung:

Wo ein Störungsverhalten sehr komplex ist, kann eine koordinierte Fallführung grossen Nutzen bringen. Damit ist ein verbindliches, enges Case Management folgender Art gemeint. Case Management bedeutet eine enge, koordinierte Fallführung bei behördlicher Zuständigkeit. Dabei ist Freiwilligkeit anzustreben, da hierdurch mehr Wirkung erzielt wird. Es kann aber auch nötig sein, durch gesetzliche bzw. gerichtliche Zwangsmassnahmen die nötige Kooperation der Betroffenen herbeizuführen. Bei Jugendlichen, deren (Gewalt-) Verhalten früh als massiv auffällt, ist es wichtig, dass koordiniert und zielorientiert gehandelt wird. Auch im späteren Jugendalter, wenn ein Fall sich als schwer erweist, sind oft viele Helferinstitutionen parallel und ohne Vernetzung tätig. So bearbeiten sie eine Vielzahl von Fällen - alle partiell mit anderen Institutionen gemeinsam. Ein Erfolg stellt sich dabei nicht ein.

Hier lässt sich dann oft noch ein weiteres Phänomen beobachten: Solche Institutionen, die in viele Fälle verstrickt sind, sind überlastet. Sie tendieren dann dazu, schwere Fälle abzugeben, wo sich die Gelegenheit ergibt, etwa bei einer Zuständigkeitsveränderung oder oft bei einem Umzug. Gerade bei Familien mit Problemen ist die räumliche Mobilität oft gross. Sie ziehen um in neue, wieder anonyme Verhältnisse. Um all dem entgegenzuwirken, braucht es Stellen, die eben eine zentrale, koordinierte Fallführung sicher stellen. Mit solchem Case Management können Kinder und Jugendliche mit auffälligem Störungsverhalten früher erfasst werden. Hier wie auch sonst ist das freiwillige Mitwirken des Umfeldes, v.a. der Eltern wichtig. Es empfiehlt sich in Überzeugungsarbeit für ein freiwilliges Mitwirken zu investieren. Falls dies nicht möglich ist, sollen involvierte Stellen nicht zögern, behördlichen Mittel rechtzeitig zu beantragen, anzuwenden oder vormundschaftliche Massnahmen am richtigen Ort einzuleiten.

4. Starke Repression - gezielter Umgang mit der kleinen Gruppe intensiver Gewalttäter:

Die Statistik zeigt, dass eine kleine Gruppe von Jugendlichen immer wieder durch massive Gewalttaten und Delikte auffällt. Bei ihnen ist der Einsatz starker, konsequenter Instrumente der Repression erforderlich. Repressionsmassnahmen können von zivilen oder strafrechtlichen Behörden, stationär (offen oder geschlossen), teilstationär oder ambulant, kurz oder langfristig verordnet werden. Meist ist eine sorgfältige Indikationsstellung und dann eine interdisziplinäre Betreuung und Behandlung der Jugendlichen mit Einbezug ihrer Eltern notwendig, mit dem Ziel der Integration und Selbständigkeit. Entsprechende Institutionen sind vorhanden, teilweise auch im Kanton Bern. Allerdings ist es oft schwierig, einen geeigneten Platz zu finden.


5. Weiteres Vorgehen


Die Strategie gibt die Stossrichtung für das künftige Vorgehen bzw. die Entwicklungen von Massnahmen ab. Sie stellt sicher, dass im Sinne der ausführlicheren Leitlinien gehandelt wird, die der Bericht entwickelt. Diese erläutern zuhanden der Öffentlichkeit das Handeln des Kantons Bern angesichts der Herausforderung von Gewalt im Jugendbereich. Diese ganzheitliche Strategie ist durch den Regierungsrat zur Kenntnis zu nehmen.

Im Sinn der Strategie sind einige grundlegende Massnahmen erforderlich. Diese bewirken, dass der Kanton Bern sein Handeln im Bereich "Jugend und Gewalt" konzeptionell und interdirektional koordiniert entwickelt. Der Kanton Bern zeigt dadurch der Öffentlichkeit, dass er die Herausforderungen aktiv angeht.

Der Bericht schlägt weitere Massnahmen entlang der vier Richtungen der Kompassstrategie vor. Diese konkretisieren den strategischen Ansatz. Sie ergänzen die Fülle der bereits bestehenden Massnahmen und setzen neue, wichtige Akzente.

Unter 5.1 sind nachfolgend die Massnahmen aufgeführt, welche in den nächsten Monaten im Detail geprüft oder in bereits laufende Projekte integriert werden sollen. Dazu gehört auch das Aufzeigen allenfalls anfallender Kosten. Im Anschluss daran sollen die zur Umsetzung geeigneten Massnahmen dem Regierungsrat raschestmöglich zum Beschluss vorgelegt werden. Die Erziehungsdirektion schlägt in Absprache mit der Gesundheits- und Fürsorgedirektion (GEF) vor, dass diese nächste Phase unter der Federführung der GEF erfolgt. Es hat sich im Rahmen der bisherigen Arbeiten gezeigt, dass bei den meisten Massnahmen die GEF eine zentrale Rolle spielt. Weiterhin beteiligt bei der Steuerung der weiteren Arbeiten sollten die Polizei- und Militärdirektion, die Justiz-, Gemeinden und Kirchedirektion und die Erziehungsdirektion sein.

In einem nächsten Schritt soll deshalb unter Federführung der GEF eine entsprechende Projektorganisation mit Vertretungen der vier Direktionen eingesetzt werden. Diese wird die obenerwähnte Detailprüfung der Massnahmen übernehmen und für die Steuerung der Umsetzung der Kleeblattstrategie gegen Jugendgewalt zuständig sein.

5.1 Zu prüfende Massnahmen

- Der Regierungsrat nimmt das ganzheitliche Handeln im Bereich "Jugend und Gewalt" in die Richtlinien der Regierungspolitik der neuen Legislatur (2010 - 2013) auf. Damit erklärt er das Thema zu einem wichtigen interdirektionalen Querschnittthema.

- "Kinder, Jugend und Familie" als interdirektionales Politikfeld. Teilziele wären folgende Schritte:
1) Gesamtheitliche Strategie und Handlungsprioritäten für die gendergerechte Förderung und Unterstützung von Erziehenden, Kindern und Jugendlichen festlegen.

2) Handlungsschwerpunkt und Mitteleinsatz prioritär auf grundlegende Dauerangebote im Bereich Gesundheitsförderung/Prävention sowie Familien-, Kinder- und Jugendförderung legen.

3) Wirksame Kindesschutzbehörden mit qualitätsfördernden und effizienten Strukturen schaffen. Vorgelagerte Fachstellen mit den notwendigen Ressourcen ausstatten, so dass frühzeitiges agieren möglich wird. Früherkennung verlangt nach entsprechenden Handlungsressourcen.

4) Schulen/Schulzentren als Kinder- und Jugendförderungszentren ausrichten und mit entsprechenden Fachpersonen / -ressourcen ausrüsten.

- Informationssystem und Plattform für die Öffentlichkeit, Datenerhebung: Im Bericht wird eine Berner Matrix entwickelt. Sie erlaubt es, alle Massnahmen im Bereich "Jugend und Gewalt" nach ihren Zielsetzungen bzw. der Massnahmenart zu erfassen und einem der vier Settings zuzuschreiben. Durch ein einheitliches Strukturieren der Massnahmen können sie in ein Informationssystem eingebracht werden. Die GEF hat mit der ERZ ein im Internet abrufbares Informationssystem für die Zielgruppen der Schule entwickelt (PRO-FInfo.ch). Es wäre wünschenswert, die Massnahmen gegen Gewalt in einem ähnlichen System aufzubereiten.

- Unterstützung der Eltern in ihrer Erziehung von Geburt an. Erfassen und begleiten von Zielgruppen mit besonderen Herausforderungen: Auf den Aufbau eines Netzes der Erziehungsunterstützung ist hohe Priorität zu legen. Andernorts werden z. B. Erziehungs-Grundkurse in Geburtskliniken angeboten. Auch bei der Einschulung und der beginnenden Pubertät sind Eltern für Erziehungsfragen zu sensibilisieren. Die Zielgruppe Väter ist bei dieser Massnahme ausdrücklich anzusprechen und mit spezifischen Angeboten miteinzubeziehen.

- Ergänzung zu bestehenden Präventionsprogrammen: Auch Täterpersönlichkeiten erfassen. Viele Präventionsprogramme gegen Gewalt zielen auf Mediation und Konfliktlösekompetenz ab. Möglicherweise braucht es eine Ergänzung um Programme, die auf Taterpersönlickeiten abzielen und sie im Wahrnehmen der Verantwortung für ihr Gewaltpotenzial schärfen.

- Instrumente des Intervenierens für Beobachter schaffen und sie bekannt machen; Rückmeldung an Personen machen, die Vorfälle melden: Personen bemerken auffälliges Verhalten zwar oft sehr früh, gewichten die Privatsphäre aber zu lange zu stark. Nachbarn bzw. das Umfeld greifen deshalb oft nicht ein. Der Standard des Community Policing, dem Melder immer ein Feedback zu geben, ist auch im Bereich Jugendgewalt im Rahmen der Rechtsordnung einzuführen.

- Gewaltmeldestelle und Unterstützungssystem in der Schule: In Berlin gibt es ein Modell für ein Reporting von Gewalt an Schulen. Es sollte auch im Kanton Bern geprüft werden. In Berlin müssen alle Gewaltvorfälle an einer Schule an eine zentrale Stelle gemeldet werden. Die Schule erhält innert 24 Stunden den Rückruf einer Fachperson, die sich über die Wirksamkeit der getroffenen Massnahme erkundigt bzw. weitere Hilfestellung anbietet. Aus den Meldungen wird eine Gesamtstatistik "Gewalt an Berliner Schulen" erstellt. Zudem ist es für jedes Schulhaus Pflicht, das Thema "Gewalt an unserer Schule" einmal pro Jahr im Lehrergremium zu thematisieren.

- Überprüfung der Bestimmungen des Datenschutzes, Freigabe von Verfahrenspfaden, wo das Prinzip "Kindesschutz vor Datenschutz" als Standard gilt. Es sind folgende Fragen zu klären:

1) Wo müssen im Interesse der Entwicklung des Kindes Daten an Beteiligte weitergegeben werden (z.B. von der Erziehungsberatung, von Gerichten an Lehrpersonen), damit Lehrpersonen ihre Verantwortung wahrnehmen können?

2) Was haben die Wissensträger für Pflichten?

3) Wie verantwortlich sind sie als Wissensträger?

- Verbindliches Case Management: Es werden Instrumente geprüft, die es erlauben, kom-plexe Fälle zu koordinieren, zusammenzufassen und eng zu begleiten. Eine derartige enge Fallführung muss konsequent eingesetzt werden. Nach der Früherfassung und -intervention muss z.B. geprüft werden, ob eine Intervention gelungen ist. Ansonsten muss der Fall mithilfe dieses Case Managements entwickelt werden. Hierbei darf der Datenschutz nicht hinderlich sein. Das Prinzip: Kindswohl vor Datenschutz existiert, wird aber oft nicht angewendet. Beim Case Management ist auch die Frage der Federführung zu klären. Eine bezeichnete Stelle muss auch bei Ortswechsel einen Fall weiter verfolgen und für den Informationsfluss bzw. die Weiterführung der Massnahme sorgen.

- Platzierungskommission: Zivil- und Strafrechtsbehörden stehen immer wieder vor dem Problem, für Jugendliche mit speziellen Verhaltensproblemen (vor allem Gewalt, Missbrauch harter Drogen) keine geeigneten Platzierungs- und Betreuungsinstitutionen zu finden oder sie wegen unhaltbarem Verhalten vorzeitig entlassen zu müssen. Für solche Situationen soll eine kantonale, interdisziplinäre und interdirektionale Kommission mit kinder- und jugendforensischem Schwerpunkt geschaffen und einbezogen werden müssen. Sie soll für den Einzelfall realisierbare und fachlich vertretbare Wege prüfen und über Weisungskompetenzen verfügen. Zudem muss sie für den Kanton ein Erfahrungswissen bezüglich fehlender Betreuungsmöglichkeiten aufbauen und den Planungs- und Finanzierungsverantwortlichen zu deren Behebung zur Verfügung stellen. Als Denkmodelle können die konkordatliche Fachkommission des Strafvollzugskonkordats oder die 2007 vorgeschlagenen FFekonsilien der Regierungsstatthalterämter dienen.

- Austrittsmanagement: Es ist ein Ziel, dass straffällige Jugendliche nach dem Austritt aus der Massnahme ihren Freundeskreis auswechseln und eine Arbeitsstelle halten können. Das ist erwiesenermassen die beste Verhinderung für eine Rückfälligkeit. Um solches Coaching zu gewährleisten, müssen taugliche Systeme für solche Coachings eingerichtet werden.

- Mehr Sicherheitsdienste abends/nachts: Es braucht mehr Präsenz von Offener Jugend-arbeit und Polizei im öffentlichen Raum, z.B. wie das Projekt Pinto in der Stadt Bern.

- Prüfung eines Alkoholverkaufsverbot nach 20 Uhr für Jugendliche: Es braucht ein Alko-holverkaufsverbot über die Gasse nach 20 Uhr. Grundsätzlich braucht es aber auch ein konsequentes Durchsetzen der gesetzlichen Bestimmungen. Die Prüfung dieser Massnahme soll auf die bereits bestehenden Diskussionsgrundlagen der Volkswirtschaftsdirektion abgestützt werden.

- Verweigerung des Lernfahrausweises, Fahrausweisentzug bei gewissen Delikten. In Berner Heimen macht man - wie anderswo auch - die Erfahrung, dass das Erlangen des Lernfahrausweises bzw. der Fahrausweis für Jugendliche ein hohes Gut darstellt. Deswegen wird bei Jugendlichen mit Suchtproblemen der Nachweis der Drogenfreiheit als Bedingung dafür verlangt, dass man ihnen die Möglichkeit eröffnet, Autofahren zu lernen. Das wirkt verhaltenslenkend. In Heilbronn und Karlsruhe wird gewalttätigen oder durch Alkoholexzesse auffallenden Jugendlichen der Fahrausweis entzogen bzw. ein Lernfahrausweis verweigert. In München eruiert die Führerscheinstelle ebenfalls Jugendliche mit Gewaltpotenzial. Jugendrichter verordnen Massnahmen im Bereich des Führerausweises/Lernfahrausweises als Teil der Strafe. Die Anwendung solcher Massnahmen bei Jugendlichen mit Sucht- und Gewaltpotenzial, die offenbar sehr wirksam sind, sind im Kanton Bern zu prüfen.

Diese Massnahmen sollen nun, wie oben erwähnt, im Detail geprüft werden. Hierbei wird auch die Finanzierbarkeit aufgezeigt werden müssen.


6. Anträge

Die Erziehungsdirektion beantragt dem Regierungsrat, gestützt auf die Erläuterungen, den vorliegenden Bericht zum Thema "Jugend und Gewalt" zustimmend zur Kenntnis zu nehmen.

Die Erziehungsdirektion schlägt dem Regierungsrat vor, dem Grossen Rat im nächsten Jahresbericht zu beantragen, die Motion Blaser, Heimberg (M150/2007) sowie die Motion Sommer, Melchnau (M 139/2007) abzuschreiben.

Die 4 Typen von jugendlichem Gewaltverhalten

Diese 4 Zielgruppen durch 4 Aussagen des Stammtisches über Jugendliche charakterisiert:

1.
Es gibt Jugendliche, von denen man sagen kann: "Es si gfreuti Ching, flotti jungi Lüt"

2.
Über andere muss die Umgebung kurz im Leben einmal sagen: "Jetzt hett si/är aber e (grossi) Dummheit gmacht!"

3.
Dann gibt es Jugendliche, für die gilt eine gewisse Zeit in ihrem Leben: "Är macht sich‘s u de angere schwär. Wie chunnt das nume no use mit däm Meitsch/däm Giel?"

4. Und dann gibt es da eine vierte Gruppe, vor diesen Jugendlichen steht ihre Umgebung lange ratlos und sagt: "Das isch e herte Brocke! Wär weiss da no Rat? Schinbaar nützt eifach alles nüüt!">

Quelle: Kanton Bern, Erziehungsdirektion, Mai 2010

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Bericht: Jugend und Gewalt
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Quelle: Kanton Bern, Erziehungsdirektion
Jugend und Gewalt
Bericht
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Weitere Informationen
Jugend und Gewalt Expertenberichte 2009
Gewaltverletzungen 1991-2007 Studie 2009
Gewalterfahrung Jugendlicher im Kanton Zürich
Jugendgewalt Ausmass, Ursachen, Massnahmen
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Gewaltprävention und Friedenserziehung an Schulen Prävention von Jugendgewalt
Studie der EKM
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