Das jährlich erscheinende Schweizer Suchtpanorama nimmt sich dieser und weiterer Fragen an, liefert neuste Fakten und Zahlen, stellt Zusammenhänge her und kommentiert. Die Darstellung der einzelnen Bereiche mündet einleitend in eine übergreifende Medienmitteilung, ein Fazit, das auch die Rolle der Politik kritisch anspricht.
SUCHT: DIE PRODUKTEVIELFALT ÜBERFORDERT DEN STAAT Sucht Schweiz präsentiert im Schweizer Suchtpanorama 2020 die neusten Zahlen und Trends zu psychoaktiven Substanzen, dem Onlineverhalten und Geldspiel. Konsumierende stehen heute vor einer grösser werdenden Produktevielfalt mit zum Teil aggressiven Marketingkampagnen der Anbieter. Es stellen sich gesundheitliche und rechtliche Fragen. Doch niemand hat den Durchblick. Sucht Schweiz appelliert an die Politik und staatlichen Behörden, den Lead zu ergreifen und die nötigen Mittel zu mobilisieren.
Das gilt selbst bei den alt bekannten Alkoholika: Zutaten wie Zusatzstoffe und Nährwerte müssen nicht deklariert werden. Alles scheint möglich. Gibt es morgen das mit Alkohol versetzte Mineralwasser wie in den USA? Oder wer hätte gedacht, dass wir es heute mit so unterschiedlichen Produkten zu tun haben wie Salben, Duft-Öle oder Kaugummis mit CBdcannabis? Politik und Behörden sind oft überfordert, mit der Realität Schritt zu halten und eine Risikoeinschätzung abzugeben. Oft fehlt es an unabhängiger Forschung und darauf aufbauend Massnahmen, die den Zugang und die Attraktivität der Produkte regeln. Dass es wichtig ist, von Beginn weg genau hinzuschauen, zeigt zum Beispiel die Opioid-Tragödie in den USA, welche stündlich mehrere Todesopfer fordert. Die Krise begann mit der raschen Zunahme bei der Verschreibung von Opioidbasierten Schmerzmitteln in den 1990er Jahren. Begünstigt wurde die fatale Entwicklung durch die laxe Regulierung des Medikamentenmarktes. Als die Behörden die fahrlässige Verschreibungspraxis erschwerten, bahnte sich die nächste Tragödie an. Viele Abhängige stiegen um auf das illegale und billigere Heroin. Nikotinabhängigkeit darf nicht wieder zur Norm werden Wie war das doch einfach: Zu Zeiten des Marlboro-Mannes war klar, in welcher Form das Nikotin zu konsumieren war. Es folgten aromatisierte und dann Lightzigaretten. Und heute suggeriert die Werbung, dass es keinen Grund mehr gibt zu rauchen, wo es doch Tabakerhitzer gibt. Die Werbung der Tabakmultis kommt neuerdings daher wie jene für einen Vorsorgeplan. Die Nikotinsucht ganz clean. Der Staat muss sich die Mittel geben, um neue Produkte besser zu bewerten und ihre Markteinführung zu regeln. Die steigende Vielfalt der Produkte erfordert dringend eine Steuerung“, erklärt Grégoire Vittoz, Direktor von Sucht Schweiz. Es braucht eine Instanz, die das Heft in die Hand nimmt - auch mit Blick auf die Generationen von morgen. Junge Menschen im Fokus des Marketings Junge Menschen sind eine besonders wichtige Zielgruppe der Anbieter, gilt es doch, neue Konsumentengruppen an ein Produkt heranzuführen und zu binden. Die Allgemeinheit hält indes wenig von der Werbeflut. Zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung befürworten in einer repräsentativen Umfrage im 2018 ein Verbot von Alkoholwerbung an Sportveranstaltungen. Und ebenfalls nahezu zwei Drittel sprechen sich für ein generelles Werbeverbot für Tabakprodukte aus (inkl. am Verkaufsort wie Kiosk). Fakt ist: Werbung verharmlost ein Produkt und macht es attraktiver. «Wir wollen keine Werbung für Tabakprodukte und plädieren dafür, die Alkoholwerbung in der heutigen Form grundsätzlich in Frage zu stellen», fasst Grégoire Vittoz, Direktor von Sucht Schweiz, zusammen. Mehr kritische Debatten Es braucht mehr gesellschaftliche Debatten wie jene rund um das Tabak-Sponsoring an der Weltausstellung 2020 in Dubai. Dass das Engagement eines Tabakmultis für den Schweizer Pavillon unangebracht ist, wurde in der hitzig geführten Diskussion rasch klar. Das ist ein starkes gesellschaftliches Signal für kommende Generationen. Voraussetzung sind gute Argumente - und hier spricht die Problemlast eine deutliche Sprache: Mehr als 20% der über 9 Millionen Todesfälle in der europäischen WHO-Region (2016) gehen aufs Konto psychoaktiver Substanzen. Bei den 15- bis 24-Jährigen ist Alkohol die Todesursache Nummer eins. In der Schweiz sind es über 11'000 suchtbedingte Todesfälle, wobei ein Grossteil dem Tabakkonsum anzulasten ist. Suchtpanorama im «Schnelldurchlauf»
Tabak: Immer mehr Nikotinprodukte Während die Raucherquote bei gut einem Viertel der Bevölkerung verharrt, kommen mit der Freigabe von Snus und nikotinhaltigen Flüssigkeiten ständig neue Nikotinprodukte hinzu - die auch bei Jugendlichen beliebt sind. Die Risiken werden allerdings erst mit der Zeit klar. Fakt ist: Es gibt keine Nikotinprodukte ohne Risiko, aber die mit den geringsten Risiken könnten gewissen Menschen beim Ausstieg helfen. Hierzu wäre allerdings eine individuelle Gesundheitsberatung vonnöten und nicht ein grenzenloses Marketing, wie es aktuell der Fall ist. Es braucht eine viel striktere Regulierung der Zigarette: Rund zwei Drittel der Bevölkerung fordern ein totales Werbeverbot. Denn mit 5 Milliarden Franken pro Jahr sind die sozialen Kosten des Rauchens sehr hoch.
Illegaler Cannabismarkt = grösster Drogenmarkt Die jüngsten Daten zum Konsum illegaler Drogen in der Schweiz deuten auf eine relativ stabile Situation hin. In grossen Städten ist der Konsum von Kokain und Ecstasy aber weiterhin hoch gegenüber vergleichbaren Städten im Ausland. Beim Cannabis zeigen die jüngsten repräsentativen Daten von 2017 einen Anstieg gegenüber 2012. Zu bedenken ist, dass legale CBD-Produkte seit 2016 erhältlich sein, die wohl einen Teil dieses Mehrkonsums erklären. Der illegale Cannabismarkt ist der mit Abstand grösste illegale Drogenmarkt in der Schweiz, aber sein Umsatz und die Gewinne dürften tiefer liegen als jener von Kokain. Die Anzahl neuer psychoaktiven Substanzen (NPS), die hauptsächlich online gekauft werden, steigt weiterhin. Allein Ende 2019 wurden 13 neue Substanzen in der Schweiz verboten.
Medikamente Die Zahlen der Lieferungen und der Verkäufe von opioidhaltigen Schmerzmitteln steigen weiterhin an, doch anders als in den USA gibt es hierzulande (bislang) keine grösseren Probleme. Dies dank der stärkeren Kontrolle der Verschreibungen und der Limitierung der Marketingmöglichkeiten in der Schweiz. Wachsamkeit ist aber angesagt. Bei starken Schlaf- und Beruhigungsmitteln (wie z.B. Benzodiazepinen) scheint die Situation auf hohem Niveau stabil zu bleiben, schätzungsweise 350'000 Personen sind aber Langzeitbezüger. Das Problembewusstsein scheint in der Fachwelt zuzunehmen, aber die Umsetzung von Vorschlägen zur Senkung des Verbrauchs lässt auf sich warten.
Geldspiele ohne Grenzen Die meisten, die an Glücksspielen teilnehmen, haben keine Probleme damit. Doch 3% der befragten Personen wiesen im Jahr 2017 ein exzessives Spielverhalten auf. Spielende im Onlinebereich gehen mehr Risiken ein. Wer männlich, jung und einkommensschwach ist, ist besonders gefährdet. Spielanreize gibt es mit dem riesigen Online-Angebot und der Öffnung des Online-Marktes für Schweizer Casinos mehr denn je. Viele Onlinegeldspiele sehen heute aus wie Videospiele, sie orientieren sich am Zeitgeist und ziehen junge Generationen in den Bann.
Ständig online - nicht immer ohne Probleme Zwischen 1 und 4% der Bevölkerung ab 15 Jahren weisen eine problematische Internetnutzung auf, wobei jüngere Menschen häufiger betroffen sind - eine Altersgruppe, die generell mehr online ist. Das kaum regulierte Internet bietet Chancen und Risiken. Dazu zählt die Vermischung mit Geldspielen. Videospiele als Konsumprodukte haben sich mit dem Aufkommen von Kaufsystemen im Spiel (z.B. «loot boxes») oder «Free-to-play»-Spielen mit Geldeinsatz stark verändert. Das Angebot und die Bewerbung sind gross und Produkteabgrenzungen verschwimmen.
Stiftung Sucht Schweiz Die Stiftung Sucht Schweiz ist ein nationales Kompetenzzentrum im Suchtbereich. Sie betreibt Forschung, konzipiert Präventionsprojekte und engagiert sich in der Gesundheitspolitik. Das Ziel der Stiftung ist, Probleme zu verhüten oder zu vermindern, die aus dem Konsum von Alkohol und anderen psychoaktiven Substanzen hervorgehen oder durch Glücksspiel und Internetnutzung entstehen. Das Dienstleistungsangebot von Sucht Schweiz ist nur möglich dank regelmässigen Geldspenden.
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